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Noras Erziehung

Noras Erziehung

Titel: Noras Erziehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monica Belle
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aufhielt, wo er als freiwilliger Helfer Highschool-Kindern das Rudern beibrachte.
    Als meine Schritte mich tatsächlich zum dritten Mal zum St.   Emmanuel College führten, warf der Pförtner mir einen derart seltsamen Blick zu, dass ich die Loge eilig hinter mir ließ. Ohne zu wissen, wo ich eigentlich hinwollte, ging ich über die Broad Street weiter und bog in die Parks Road ein. Die Bäume waren von Reif überzogen, und der Himmel über mir war kalt und klar. Aber ich war warm angezogen. Genauso wie der Mann, der mir dort entgegenkam und den ich aufgrund seiner Vermummung erst erkannte, als er nur noch ein paar Meter entfernt war: Dr.   James McLean.
    «Nora? Wie schön, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Sie sind aber sehr früh zurück.»
    Ich hätte sicher ein Dutzend Ausreden vorbringen können, entschloss mich aber, ihm einfach die Wahrheit zu sagen. «Ich hab mich zu Hause gelangweilt. Irgendwie hat sich dort alles verändert.»
    «Ich fürchte, der Verlust von Vergnügungen der Kindheit ist der Preis, den man fürs Erwachsenwerden zahlen muss.»
    «Meine Freunde scheinen sich nicht verändert zu haben.»
    «Aber Sie haben sich verändert. In der ersten Zeit ging es mir hier ganz genauso.»
    Ich lächelte ihn voller Dankbarkeit für sein Verständnis an.
    «Sie müssen sich hier doch auch zu Tode langweilen», fuhr er fort.
    «Ich habe jede Menge Arbeit, die ich erledigen könnte.»
    «Aber eben kein Vergnügen. Die Boote liegen fest, und es ist kaum jemand hier. Gehen Sie doch heute Abend mit mir essen. Dann könnten wir uns bei einer Flasche Wein gegenseitig trösten.»
    «Danke. Das wäre sehr schön.»
    Ich hatte seine Einladung angenommen, ohne groß darüber nachzudenken, aber dann überfielen mich doch gewisse Zweifel. Seit ich Dr.   McLean kannte, waren wir noch nie allein gewesen. Und da er in meinen Phantasien so eine große Rolle spielte, war ich alles andere als sicher, ob ich in der Lage war, eventuelle Avancen abzuwehren. Zunächst sagte ich mir, dass ich einfach absagen würde und dazu auch jede Menge guter Gründe hätte: Stephen, Violet, sein Alter und das, was er zweifellos mit mir anstellen wollte. Aber tief im Inneren wusste ich, dass nur die Tatsache zählte, damit einen Verrat an meiner Freundin zu begehen. Und obwohl das Grund genug war, brauchte ich doch dringend Gesellschaft und hatte auch keine Lust, mir sonst eine Ausrede einfallen zu lassen, nachdem ich seine Einladung einmal angenommen hatte.
    Er lebte im Osten von Oxford in der Eynsham Road. Ich wusste, dass Violet ihn ab und zu dort besucht hatte, aber für mich war es das erste Mal. Während ich über die Botley Road radelte, musste ich permanent daran denken, was die beiden miteinander trieben, sodass ich mir beim Überqueren der Ringstraße eine große burgähnliche Villavorstellte – mit um die Türmchen kreisenden Raben und schweren Eisengittern vor den Fenstern.
    Nichts von alledem traf zu. Sein Haus war eine umgebaute Scheune, die in einem sehr gepflegten Garten ein Stück von der Straße entfernt lag. Der Garten wirkte jetzt zwar völlig farblos, sah aber aus, als würde es dort im Frühling wunderschön sein. Auch das Innere des Hauses hatte so gar nichts Bedrohliches an sich. Es bestand aus einem einzigen offenen Raum, den die erhaltenen Originalbalken krönten. Das Schlaf- und Badezimmer befanden sich auf einer Art Galerie in der oberen Etage. Nur ein riesiger Eisenhaken in einem der Balken mitten über dem Wohnzimmer kam mir irgendwie verdächtig vor. Aber selbst der sah so uralt aus, dass es sich zweifellos um einen schon damals vorhandenen Gegenstand handelte, der eher landwirtschaftlichen Bezug hatte und nicht dazu gedacht war, aufsässige Mädchen an ihren Handgelenken aufzuhängen, um sie ein bisschen auszupeitschen. Da ich später noch mit dem Rad nach Hause musste, schlug mein Gastgeber Saft statt Wein vor. Dr.   McLean war freundlich und entspannt, obwohl das Gespräch mit ihm wie immer sehr tiefgreifend war und nicht immer leicht, ihm zu folgen.
    «Und haben Sie schon die Installation vor der Saïd Business School gesehen? Da müssten Sie eigentlich mit dem Rad vorbeigefahren sein.»
    «Äh, also da war so was wie eine Lasershow.»
    «Das nenn ich mal eine aufschlussreiche Aussage. David Warburton sagt, es sei Kunst. Aber ist es das wirklich?»
    «Ich weiß nicht recht. Hübsch anzusehen ist es schon.»
    «Sie sind hübsch anzusehen. Violet ist hübsch anzusehen. Aber keine von Ihnen ist ein Kunstwerk,

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