Nordmord
schon am nächsten Tag sollte die Fracht vom Schiff abgeladen und der Rückweg
angetreten werden. Plötzlich hörte er eine Stimme von einem gegenüberliegenden
Schiff. Ob man eine glückliche Reise gehabt habe? Noch ehe der Matrose
antworten konnte, hörte er eine weitere Stimme, diesmal von dem Schiff, auf
welchem er sich befand. Jemand jammerte, dass er so viel Arbeit gehabt hatte.
Die Masten hatten gestützt werden müssen, die Segel gehalten und mehrere Lecks
im Schiffraum hatten gestopft werden müssen. ›Heute Nacht‹, hörte der Matrose
die Stimme sagen, ›verlasse ich das Schiff, denn der Kapitän und die Matrosen
schreiben die schnelle und tüchtige Fahrt sich selbst zu und haben mich
vergessen‹. Nun wusste der Matrose, dass sich zwei Klabautermänner
unterhielten. Er verhielt sich ganz ruhig. Am nächsten Morgen aber flüchtete er
von dem Schiff, um sich nach einer anderen Stelle umzusehen. Das Schiff aber
lief aus und ging mit Mann und Maus unter.«
Anne war während des Erzählens eingeschlafen. Er hob sie auf
seine Arme und brachte sie ins Bett. Nachdem er sich von Timo verabschiedet
hatte, fuhr er nach Hause.
Es war beinahe zur Gewohnheit geworden, dass er
sich mit dem Tagebuch auf der Couch niederließ.
10.06.1996
Voronin hat Urlaub. Was für eine Wohltat. Endlich ist es
richtig nett auf Station. Alle haben gute Laune und sind viel entspannter.
Vielleicht sollte man den Professor in einen Dauerurlaub schicken, dann wäre es
immer so schön hier. Man soll ja niemandem etwas Schlechtes wünschen, aber mich
würde es nicht stören, wenn er nicht wiederkäme. Morgen Abend treffe ich mich
mit Marlene. Sie kommt mal zu mir und wir machen einen Frauenabend mit Video,
Chips und Schokolade und so. Wie früher. Ich freue mich schon. Von Malte habe
ich ihr bis jetzt noch nichts erzählt, vielleicht ergibt es sich ja beim
Videogucken.
18.06.1996
Es ist etwas
Merkwürdiges passiert. Ich wollte aus Voronins Büro neue Formulare holen, da
sind mir einige Krankenblätter in die Hände gefallen. Zugegeben, ich habe ein
wenig in seinem Schreibtisch herumgeschnüffelt, aber ich wusste selbst nicht,
wonach ich suchte. Die Krankenblätter waren teilweise schon älter und ich
dachte, dass er vergessen hatte, sie weiterzugeben, wegen der Eingabe und der
Archivierung. Ich habe sie mit ins Ärztezimmer genommen und am PC die
gefundenen Krankenakten aufgerufen. Unter den jeweiligen Daten waren zwar
Eingaben vorhanden, allerdings nicht dieselben wie auf den Krankenblättern.
Beim ersten habe ich noch gedacht, das sei sicherlich nur ein Fehler, aber bei
allen Akten waren falsche Einträge vermerkt. Ich kann mir das nicht erklären.
Ich werde morgen mal im Archiv nachfragen, denn heute war da leider keiner
mehr.
Kommissar Thamsen blätterte interessiert weiter.
Aber der nächste Eintrag stammte vom 24.06. und Heike berichtete von der
Rückkehr des Vorgesetzten. Kein Wort mehr über die falschen Akten. Entweder
hatte es sich wirklich als Systemfehler oder Ähnliches entpuppt oder sie hatte
keine Zeit gefunden, über die Klärung der falschen Eingaben zu schreiben.
Marlene hatte panische Angst. Malte war mit ihr
zu der Stelle gefahren, wo man Heikes Leiche gefunden hatte. Sie hatte ihn
dorthin lotsen müssen. Er kannte sich anscheinend nicht aus, obwohl sie die
ganze Zeit den Verdacht hatte, er spielte ihr seine Orientierungslosigkeit nur
vor. Dass er nicht wusste, wo der Fundort der Leiche war, hatte sie ihm nicht
abgenommen.
Er hatte sie gezwungen, auszusteigen, und stieß sie nun vor
sich her Richtung Au. Sie schaute sich suchend nach Tom und Haie um. Wo waren
die Männer nur? Wieso war sie auch mit ihm mitgegangen?
»Suchst du wen?«
Er blickte sich nun ebenfalls um, konnte aber niemanden
entdecken. Auf der kleinen Böschung blieb er plötzlich stehen.
»Hier also haben sie Heike gefunden.«
Sie nickte. Als ob er das nicht wüsste. Selbst wenn er nicht
der Täter war, jede Zeitung hatte darüber in den letzten Tagen ausführlich
berichtet und sogar Fotos vom Fundort abgedruckt. Sie blickte hinab in das
schwarze, gurgelnde Wasser.
»Nehmen wir mal an, ich hätte Heike tatsächlich umgebracht.
Was meinst du, was ich jetzt mit dir mache?«
Sie riss ihre Augen weit auf, ihr Herz klopfte wild, sie
begann, zu schwitzen. In dem schummrigen Licht sah er bedrohlich aus. Sie
drehte sich blitzschnell um und wollte weglaufen, doch er packte
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