Nosferas
von hier unten schwer abzuschätzen. Ich würde aber sagen, wir können es schaffen. Wenn ihr wollt, versuche ich es erst alleine.«
»Was soll das bringen?«, wehrte seine Cousine ab. »Wir sind so weit gekommen und von den anderen fehlt noch jede Spur. Jetzt nehmen wir uns auch den Triumph, der uns gebührt!«
Sie reckte sich, schob die Fingerspitzen zwischen die bröckelnden Mörtelstücke und stieg dann mit den Füßen nach. Sie machte eine gute Figur, wie sie sich stetig höher schob, den Körper immer gespannt, den Leib eng an die Mauer gedrückt. Franz Leopold folgte ihr rasch. Er war der Geschickteste der drei und hatte sie bald überholt. Karl Philipp dagegen hatte einige Mühe. Vor allem sein Degen war ihm im Weg und verhakte sich ein paarmal. Auch trat er immer wieder kleine Mörtelbrocken los und mehrmals rutschten seine Sohlen ab. Er fluchte.
»Du musst dich langsamer und gleichmäßiger bewegen«, rief ihm Franz Leopold zu, der den Mauerring schon fast erreicht hatte. »Und schieb den Degen weiter nach hinten. Folge mir!« Er hielt inne und sah nach oben. Ja, das müsste gehen. Franz Leopold zog sich an den gewellten Bogenstützen nach oben, verlagerte das Gewicht seitwärts und klemmte eine der Stützen zwischen die Beine. Nun konnte er den Körper ausstrecken und sich so weit nach außen lehnen, dass er den nächsten schmalen Sims zu fassen bekam. Für einen Menschen wäre das ein Kunststück gewesen, dem sein Körper nicht standgehalten hätte, doch für einen jungen Vampir war das Hindernis nicht allzu schwer zu überwinden. Franz Leopold zog sich auf den gerundeten Sims und richtete sich dann langsam auf. Wie er vermutet hatte, konnte er die Kante der Fensternische greifen. Geschafft! Anna Christina, die ihn genau beobachtet hatte, saß kurz darauf schon in der Fensternische nebenan. Als Karl Philipp, schimpfend und stöhnend, bei ihnen anlangte, hatte Franz Leopold bereits das Fenster geöffnet.
»Willkommen in der Engelsburg! Ich wusste, dass wir es schaffen. Also los, sehen wir zu, dass wir uns einen schönen Platz auf dem Dach reservieren, auf dem wir bequem auf unsere Herausforderer warten können!«
Die drei jungen Vampire und der weiße Wolf liefen am Ufer entlang. Seymour rannte mit weiten Sprüngen voran. Ivy und Alisa waren kaum langsamer. Nur Luciano fiel immer weiter zurück. »Luciano, nun komm schon!«, rief Alisa ungeduldig.
Der Nosferas stöhnte. Seine Brust schmerzte und in seinem Kopf begann es zu hämmern. Warum nur hatte er sich auf diesen irrsinnigen Wettkampf eingelassen? Das war natürlich keine echte Frage, da die Antwort klar auf der Hand lag: Weil jemand diesen unerträglichen Angeber Franz Leopold und seine ganze Sippschaft in ihre Schranken weisen musste! Und warum ist dir das so wichtig? Warum musst du das tun?, bohrte eine Stimme in seinem Kopf weiter und lachte spöttisch.
Luciano sah Ivys silberne Lockenpracht im Takt ihrer Schritte vor sich auf und ab wippen. Die dunkle Kapuze war zurückgerutscht und hing nun über den Rücken hinab. Ihr schlanker Körper bewegte sich flink, lautlos und voller Anmut. Ihre nackten Füße schienen über dem Boden zu schweben. Allein dieser Anblick war es wert, jede Mühsal auf sich zu nehmen!
Ah, du tust das für Ivy! Meinst du wirklich, du kannst sie mit einer solchen Aktion beeindrucken, noch dazu wenn ihr verliert, weil du einfach zu langsam und zu träge bist? Die Stimme in seinem Kopf klang ein wenig nach Franz Leopold.
»Luciano! Nun komm schon! Trödle nicht so«, rief Alisa über die Schulter zurück. »Die Dracas sind vielleicht schneller, als uns lieb sein kann!«
Luciano ballte die Fäuste, bemühte sich aber, noch schneller zu laufen. Wann war er das letzte Mal so gerannt? Er konnte sich nicht daran erinnern. Er brauchte seine ganze Kraft, um nicht zu stolpern und auf dem Pflaster aufzuschlagen. Das Bild des Petersdoms tanzte verschwommen vor seinen Augen. Luciano bemerkte, dass der Fluss sich nach Osten zu winden begann. Gut, gleich würden sie die Engelsburg sehen und dann wären sie bald da, und dann konnte er endlich anhalten und sich ein wenig ausruhen, während sie auf die Dracas warteten.
Da kam das Castel Sant Angelo in Sicht. Die drei liefen am Ospedale di Santo Spirito vorbei, dem Hospital, das hier bereits vor mehr als sechshundert Jahren vom damaligen Papst für die Bedürftigen errichtet worden war. Auch heute noch konnten arme Frauen unerwünschte Kinder durch die rota schieben und sie so
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