Novemberrot
Moment. Dann stand er wortlos auf, stürzte aus dem Raum und ließ eine verdutzt dreinschauende Frau zurück. Nur wenige Augenblicke später erschien er wieder mit Kreismüllers Notizbuch und einem beschriebenen Blatt Papier auf der Bildfläche. Zum Vergleich legte er seinen Zettel neben Rosis .
» Sofort als ich die Zeilen gelesen hatte, kam mir der Text bekannt vor. 1967 überließ mir deine Mutter diesen Brief für die Zeit der Ermittlungen, doch ich vergaß allerdings, ihn ihr wieder zurückzugeben. Sie sagte mir damals, dass es sich um den Abschiedsbrief deines Vaters Michael Bergheim handelte, den der bei seinem Verschwinden 1947 hinterlassen hatte. Aber genutzt hatte uns der Schrieb wie du weißt leider nicht. Nur wenn dein Brief von deinem Vater stammt, von wem ist dann meiner und warum log deine Mutter?«
Weller drehte die beiden Papiere um, sodass Rosi die Schriften erkennen konnte und war gespannt auf ihre Antwort. Jetzt war Rosi diejenige, die große Augen machte. Denn die Handschrift in Wellers Brief, der angeblich von ihrem leiblichen Vater stammen sollte, erkannte sie sofort .
» Nein Fritz, du musst dich irren, die Schrift ist eindeutig von meiner Mutter. Dieses kritzelige Sütterlin erkenne ich doch direkt wieder!«
»Und warum verzichtete deine Mutter auf den Teil mit dem Sagenhaften ? Denn ansonsten sind die Texte absolut identisch. Wollte sie uns damals etwas Sagenhaftes verheimlichen? Aber tu mir bitte den Gefallen, fang du jetzt nicht auch noch an, uns Geschichten von Geistern und Gespenster aufzutischen. Diese Ammenmärchen haben wir euch vor 24 Jahren nicht abgekauft und tuns auch dieses Mal nicht. Außerdem sind wir Polizisten und keine Geisterjäger, die gibts nur im Kino!« Weller lehnte sich genervt zurück. Rosi versicherte ihm darauf, dass sie nichts damit anzufangen wusste und er ihn doch unter Umständen in seine Untersuchungen einbauen könnte .
» Na gut, lass ihn hier, mal sehn was der Wisch uns bringt.« Irgendwo war Weller selbst für den kleinsten Hinweis dankbar und er dachte kopfschüttelnd bei sich: »Ich glaube, ich habe gerade ein Déjàvu. Denn ich war doch schon mal in der Situation, dass ich mich aus lauter Verzweiflung auf diesen Hokuspokus eingelassen habe.«
»Dir hatte meine Mutter also damals die Wahrheit gesagt, dass mein richtiger Vater den Krieg überlebt hatte und nach Mayberg heimgekehrt war? Und mir erzählte sie erst kurz vor ihrem Tod, wie es sich wirklich abgespielt hatte.« Enttäuschung gepaart mit Verwunderung spiegelte sich in Rosis Gesicht und in ihren Worten wieder. Dann jedoch schaute sie Fritz in die Augen und sagte mit fester Stimme: »Ich gebe zu, dass ich sie dafür gehasst habe, dass sie meinen Vater so eiskalt abserviert hatte.
Aber schließlich habe ich ihr verziehen. Denn meine Mutter war auch nur ein Opfer von Heinrich Kreismüllers hinterhältigen und niederträchtigen Machenschaften. Er spielte meine Eltern einfach gegeneinander aus und sie sind alle auf ihn reingefallen. Na ja, das Schwein hat seinen gerechten Lohn dafür bekommen.« Fragmente der Befragung Maria Kreismüllers an jenem Tag im November 1967 gelangten allmählich zurück in Wellers Bewusstsein .
» Deine Mutter bat mich darum, euch weder etwas zum Inhalt ihrer Befragung und erst recht nichts zu dem Brief zu sagen, den sie mir überließ. Ich glaube ihre Worte »EINEN Vater zu verlieren genügt« vergesse ich wohl nie. Na ja, und mit dem EINEN hatte sie mir gegenüber natürlich den alten Kreismüller gemeint. Sie versprach mir auch in die Hand, dir die ganze Wahrheit zu gestehen, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist … und besser spät als nie, kann ich da nur sagen!«
»Mag sein. Aber seitdem ich es nun weiß, habe ich meinen Vater ständig vor Augen und träume sogar nachts von ihm. Es ist jedes Mal der gleiche Ablauf … Ich bin noch klein, sehe ihn wie er zur Hoftür herein kommt und höre wie er nach mir ruft. Dann laufe ich zu ihm. Er hebt mich hoch und gibt mir einen Kuss.« Rosi strich sich mit ihrer Hand sanft über ihre Wange und lächelte: »Dann fühle ich mich einfach nur noch geborgen und behütet.«
Fritz lauschte ihr gebannt. Sie schien in Gedanken weit, weit weg zu sein und wirkte einfach nur glückselig. Doch dann, wie aus heiterem Himmel, änderte sich ihre Stimmung und von der eben gezeigten Zufriedenheit war plötzlich nichts mehr übrig. Weller gewann rasch den Eindruck, als spiegelte sich nun in Rosis stahlblauen Augen all das Leid und
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