Nuhr, Dieter
meine Mutter angerufen hat?« Was
ist das für eine Frage? Weil ich nicht daran gedacht habe. Aus dem gleichen
Grund habe ich ihr auch die Einladungskarten für den Sonderverkauf von
italienischen Markendesignerschuhen mit Rabatten bis zu 70 Prozent nicht
gegeben. Das war keine schöne Erfahrung. Wenn die Karte wenigstens weg gewesen
wäre. Warum muss die auch wieder auftauchen, in der Schublade, wo auch der Uhu
ist, der Tesa und die Kordel? Und die Uhr, die monatelang verschwunden war, die
ich mir indessen neu gekauft habe.
Als ich die wiederfand, war mir sofort bewusst: »Klar, da
hab ich die hingetan!« Ich vergesse nämlich eigentlich gar nichts, ich kriege
es nur nicht zur richtigen Zeit aus dem Speicher heraus. Mir fehlt sozusagen
eine Erinnerungsfunktion, wie im Computer: Pop-up-Fenster: »Socken aus dem Wohnzimmer!«
Fünf Minuten später die zweite Erinnerung: »Beide Socken!«
Was mir aber noch mehr fehlt, ist die Funktion: Menü - Bearbeiten
- Rückgängig. Spätestens, wenn ich gerade ohne Schlüssel vor der Haustür stehe,
die Tür gerade ins Schloss gefallen ist, und ich denke: »Was wollte ich noch
mitnehmen?«
Es ist gut, dass ich nicht Bauer geworden bin, sonst gäbe
es sicher bald neue Bauernregeln: Steht im Winter noch das Korn, isses halt
vergessen worn!
Keller 10.
November 2003
Ich kann heute nicht schreiben, weil ich gerade dabei bin,
den Keller aufzuräumen. Und Keller aufräumen ist eine Tätigkeit, die man
entweder lässt oder man kommt darin um. Deswegen lässt man es ja auch erst mal,
bis man irgendwann gar nicht mehr durchkommt. Dann kommt die zweite Phase. Man
geht nicht mehr in den Keller, sagt sich aber: »Ich müsste mal aufräumen da
unten.« Diese Phase dauert etwa zehn Jahre. Am Ende erreichen die Spinnen im
Herbst Handtellergröße und kommen einem auf der Treppe entgegen, und die Ratten
kommen hoch in die Küche, um sich über den Dreck im Keller zu beschweren. Das
ist ein bedenkliches Zeichen.
Spätestens dann denkt man darüber nach, ob man nicht doch
mal mit der Lötlampe durch den Keller geht. Man könnte auch einfach eine Ladung
Sprengstoff reinwerfen, aber leider steht über dem Keller das Haus. Das macht
die Sache kompliziert.
Außerdem ist nicht auszuschließen, dass unter dem ganzen
verrotteten Zeug, was da vor sich hinmodert, nicht auch noch Dinge sind, die
man brauchen kann. Und wenn man aufräumt, merkt man erst, was man alles noch
brauchen kann: Leisten, Bretter, Pappen - alles Dinge, die unbedingt noch zehn
Jahre aufbewahrt werden müssen. Man könnte sie auch neu kaufen, wenn man sie
denn irgendwann einmal braucht, aber das würde ja vielleicht einen, vielleicht
sogar mehrere Euro kosten, vielleicht sogar drei oder vier. Dafür wäre dann
zwar der Keller wieder begehbar, aber nein! Wo leben wir denn? In einer Konsumgesellschaft?
Wo man modernde Leisten einfach wegwirft, bloß weil der Schimmel schon durch
die Türritzen kriecht? Nein! In Afrika gibt es Kinder, die nichts zu essen
haben, in Argentinien wird der Regenwald abgeholzt, und wir werfen verbogene,
feuchte, vor sich hinmodernde Fichtenholzleisten weg? Nein. Den Zusammenhang
verstehe ich nicht, aber so etwa hört sich die übliche Argumentation an.
Bei Männern. Frauen sagen einfach: »Die Schuhe werden
wieder modern. Das kommt wieder.« Der Mann guckt sich die Schuhe kurz an und
fragt dann: »Trägt man sie dann mit den Rattenkütteln drin oder ohne?« Aber das
spornt die Damen nur richtig an. Damenschuhe aus dem Keller entsorgen, das ist,
wie wenn man einer Leopardin ihr Junges wegnimmt. »Nein! Das sind Pradaschuhe!«
Und die Handtasche, die ein paar Jahre als Schwalbennest gedient hat, die kommt
auch wieder, hundertprozentig!
Das ist natürlich niemals der Fall. Niemals braucht man
etwas wieder, was schon einmal im Keller war. Aber der Mensch wird im Keller
mit seiner eigenen Sterblichkeit konfrontiert. Wir alle sind Schuhe, die einmal
ausgetreten unter der Erde liegen werden, wir alle werden einmal da unten sein,
von modrigen Fichtenleisten umgeben. Ich glaube allerdings nicht, dass dann
noch einer sagen wird: »Lass mal liegen, der kommt wieder.« Vorbei ist vorbei
- weg mit dem Zeug. So ist das Leben.
Aristoteles und die
saubere Treppe 11. November 2003
Was soll ich eigentlich mit meinem Leben anfangen? Das
sollte man sich ab und zu immer mal wieder fragen, vor allem, wenn man häufig
MauMau spielt oder Pferdeposter sammelt. Dann ist das Leben nämlich fast so
sinnlos wie
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