Nuhr, Dieter
Forderungen zu überzeugen. Für uns
war Schwarzfahren eine Form des politischen Widerstands. Das haben die
Kontrolleure einfach nicht verstanden ...
Was wir nicht wussten, war Folgendes: Wirtschaft ist der
Austausch von Waren und Dienstleistungen. Unsere Vorstellung von Wirtschaft war
ungefähr so: Wir bekommen alles geschenkt und beteuern dafür, wie gern wir
etwas gegeben hätten, wenn wir auch was besitzen würden. Das ist ja auch heute
noch Mehrheitsmeinung, und deshalb glauben 95 Prozent unserer Mitmenschen, die
sozialen Sicherungssysteme stünden vor dem Kollaps, sind aber zu 65 Prozent
gegen Reformen. Das ist nicht logisch, aber Mehrheitsmeinung. Es ist Demokratie,
wenn 1 plus 1 auch mal 3 sein kann, unter der Bedingung, dass der Wähler es so
beschließt.
Wenn man dann selbst mal ein paar Scheine besessen hat,
womöglich gar durch eigene Arbeit erworben, dann lernt man plötzlich den Wert
des Geldes kennen. Plötzlich fühlt man sich jenen ausgeliefert, die an diesem
Schein partizipieren wollen, die einem zurufen: »He, ich habe dich doch auch
eingeladen, damals, es kann nicht mehr als ein paar Jahre her sein ...«
Was kann man aus dieser Geschichte lernen? Dass das Geld,
was verteilt werden kann, erst mal verdient sein muss? Das wäre zu einfach. Was
man als Erstes lernt, ist: Wo jemand Geld hat, gibt es immer eine Mehrheit, die
es verteilen will.
In einer Demokratie wie der unseren braucht man gute
Argumente, um sein Geld behalten zu dürfen. Weil Geld erst dann ungerecht ist,
sobald es das eigene Portemonnaie verlässt. Deshalb macht man sich bei uns so
wenig Sorgen um die Wirtschaft, aber so viele Gedanken über Verteilung. Weil
allgemein unbekannt ist, dass Geld, was man verteilen möchte, erst erwirtschaftet
werden muss. Die Meisten glauben nämlich, das Geld kommt aus der Druckerei.
Deshalb wird bei uns bald die Hälfte der Bevölkerung daran
arbeiten, neue Verteilungsmechanismen zu entwickeln und die anderen 50 Prozent
fuhren dann die Verteilung durch. Dann ist Gerechtigkeit erreicht: Dann geben
alle nichts, weil ja nichts mehr erwirtschaftet wird. Dann können wir auch
wieder schwarzfahren. Welch eine Zukunft! Schön, dass es noch Utopien gibt!
Tanzen 24. Mai 2004
Ich bin ja nicht sooo der begeisterte Tänzer. Wenn Tanzmusik
läuft, überfällt mich jedes Mal wieder so ein Schmerz im linken Knöchel, der
unweigerlich dazu führt, dass ich kaum noch auftreten kann, jedenfalls nicht im
Takt. Frauen wollen ja immer gleich lostanzen. Kaum läuft Musik, geht das los:
»Ich will tanzen ...!«
Männer wollen so etwas nicht. Tanzen ist wie Weinen:
Männer machen es - aber nicht in der Öffentlichkeit. Männer tanzen gerne, aber
wenn, dann allein, zu Rockmusik, und dann halten sie eine imaginäre Gitarre in
der Hand. Das ist ein total würdeloser Anblick. Wenn das einer sieht, kann man
sich als Mann eigentlich nur noch erschießen.
In der Öffentlichkeit geht das nicht. Ebenso wenig wie weinen.
Ich weine in der Öffentlichkeit eigentlich nur, wenn ich tanzen muss. Dann
weine ich wegen der Knöchelschmerzen, die plötzlich einsetzen, und weil ich den
Anblick anderer tanzender Männer ertragen muss. Es gibt Völker, deren Männer
können tanzen, wie beispielsweise bei den Brasilianern. Das ist dann was
anderes. Die haben das einfach drauf. Dafür stellen wir bessere Küchenmesser
her! Dafür ist Deutschland bekannt! Solinger Messer werden weltweit exportiert!
Im Gegenzug importieren wir dann gerne Tänzer aus Brasilien. Das ist Globalisierung.
Warum soll ich tanzen, wenn Brasilianer darin besser sind? Soll ich einem
brasilianischen Tänzer den Arbeitsplatz streitig machen? Warum?
Und wie soll das gehen? Das sieht doch übel aus, wenn man
weinend vor Knöchelschmerzen über eine Tanzfläche voller Brasilianer humpelt.
Nun habe ich natürlich nicht wirklich Schmerzen. Das ist einfach die übliche
Form der Simulation, so wie man vor der Musterung 15 Tassen Kaffee trinkt, um
mit hohem Blutdruck untauglich geschrieben zu werden. Das klappt auch nie. Dann
sagt der Frontarzt: »Bei der Truppe wird das besser.« Und zwei Monate später
robbt man durch den Schlamm ...
Genauso ist das beim Tanzen. Man simuliert und am Ende
steht man doch auf der Tanzfläche, und die Frau sagt: »Siehst du, geht doch,
und du tanzt wie ein Brasilianer.« Dann muss man weinen. Als Mann. Natürlich
ist es gelogen. Man tanzt höchstens wie ein Brasilianer, der eine Bambusstange
verschluckt hat. Aber Frauen sagen so etwas halt,
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