Null-Null-Siebzig: Agent an Bord: Kriminalroman (German Edition)
wieder hochkam und ganz braun war im Gesicht, weil ich am Fuß des Berges in ein Schlammloch gefallen war. Wahrscheinlich bin ich das einzige Kind, das davon profitiert hat, dass die Mutter die Familie verlassen hat. Ehrlich, James, meine Mutter ist genau das Gegenteil von dem, was man sich unter einer fürsorglichen Mutter vorstellt.«
»Wenigstens ist sie Ihnen nicht mit übertriebener Sorge auf die Nerven gegangen, nicht wahr? Ihre Freundinnen werden Sie um Ihre Mutter beneidet haben. Sie hat die Dinge locker gesehen.«
Sheila seufzte. »Ach, James, Sie haben ja keine Ahnung, wie es ist, Peter Pan als Mutter zu haben. Ich bin mir mit zehn Jahren schon erwachsener vorgekommen als sie. Und seit sie die achtzig überschritten hat, ist es immer schlimmer geworden. Sie ist wie ein Kind.« Es klopfte an der Tür. James stand auf, öffnete und ließ den Japaner herein, dermorgens am Kiosk in der Observation Lounge bediente. Er stellte eine Flasche Eierlikör und zwei Gläser mit Eis auf den Tisch. »Trinken Sie ein Glas mit, Mr Hikikomori?«
Mr Hikikomori schüttelte den Kopf. »Danke, ich vertrage keinen Alkohol.«
James nickte und gab ihm ein Trinkgeld, dann schenkte er ein, reichte Sheila eines der Gläser und nahm das andere. »Armer Teufel«, sagte er, als der Japaner die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Vielen Asiaten fehlt ein Enzym, sie vertragen Alkohol nur sehr schlecht.«
»Wieso armer Teufel«, sagte Sheila. »Er lebt gesund.«
»Aber um welchen Preis.« James führte sein Glas zum Mund. Dann verzog er sein Gesicht. »Meine Güte, schmeckt das widerlich. Und das hat Jamie freiwillig getrunken, als wäre es Cola? Mit dem Kind stimmt etwas nicht.«
Sheila nippte an ihrem Likör und leckte sich über die Lippen. »Die Geschmacksnerven sind bei Kindern noch nicht voll entwickelt. Hauptsache, süß.«
James nahm die Flasche. »Apropos, mögen Sie noch ein Glas?«
»Nein, danke«, sagte Sheila, doch ihre Augen sagten etwas anderes.
»Ich habe übrigens ein besonderes kleines Geschenk für Ihre Mutter morgen«, sagte er, während er ihr Glas aufs Neue füllte.
»Sie hat doch ausdrücklich gesagt, dass sie keine Geschenke will«, sagte Sheila.
»Was Menschen sagen und was sie meinen, ist nicht immer dasselbe«, gab James lächelnd zurück. »Oder wollen Sie Ihre Mutter etwa beim Wort nehmen und ihr nichts schenken außer einer herzlichen Umarmung?«
»Ich weiß noch nicht, ob meine Umarmung besonders herzlich sein wird.«
»Kommen Sie, Sheila, seien Sie nicht so hartherzig. Ein weiches Herz pocht am längsten. Altes chinesisches Sprichwort.«
»Sie und Ihre erfundenen Sprichwörter, James!« Sheila musste lachen. »Nun zeigen Sie schon, was Sie für meine Mutter haben. Wenn es schön ist, nehme ich es.«
Er ging in seine Kabine und holte eine Flasche, die mit dunkelroter Flüssigkeit gefüllt war.
»Rotwein?«, fragte Sheila. »Ich glaube nicht, dass meine Mutter Rotwein ...«
»Nein.« James überreichte ihr die Flasche. »Es ist selbst hergestellter Johannisbeerlikör. Mit Johannisbeeren aus meinem Garten. Es war kaum zu übersehen, dass Ihre Mutter gern Likör trinkt, und ich glaube beobachtet zu haben, dass Johannisbeerlikör ihr Favorit ist. Und voilà, hier haben wir das perfekte Geschenk für unsere Jubilarin.«
Sheila betrachtete das handgeschriebene Etikett eine Weile misstrauisch. »Aber Sie wussten doch, als wir an Bord gingen, noch gar nicht, dass meine Mutter gern ...«
»Verraten Sie mich nicht«, sagte James lächelnd. »Die Illusion ist alles, was zählt. Und im Übrigen ist die Verpackung nicht mit dem Inhalt gleichzusetzen.«
»Es ist also nicht das drin, was draufsteht?«
»Genau.« Er lächelte. »Ich habe diese Flasche Bordeaux im Bordshop gekauft, geleert – er war gar nicht mal schlecht – und mit einem Gemisch aus Johannisbeerlikör, Himbeersirup und Himbeergeist gefüllt. Ebenfalls aus dem Bordshop. Selbstverständlich habe ich nicht wenig Arbeit in die Abrundung des Geschmacks investiert. So gesehen istes durchaus ein persönliches Geschenk, auch wenn ich die Johannisbeeren nicht liebevoll selbst von den Sträuchern meines Gartens gepflückt habe. Schon allein, weil es keine Obststräucher in meinem Garten gibt.«
»Etikettenschwindel«, stellte Sheila zufrieden fest. »Das geschieht ihr recht.«
James ging in seine Kabine und holte ein Glas, dann befüllte er es bis zum Rand mit dem dunkelroten, dickflüssigen Likör und reichte es Sheila. »Probieren
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