Nummer Drei: Thriller (German Edition)
in ein Industriegebiet mit Lagerhallen und Fabriken ein. Schließlich, als sie im Osten das riesige dunkle Meer wogen sahen, verließen sie die Stadt und gelangten zu der nach Norden führenden Hauptstraße. Dort schlossen sie sich dem Strom der Flüchtlinge an, der winzige Zufluss zweier kleiner Jungen ging in der großen Flut auf. Tausende flohen zu Fuß aus der Stadt. Weitere Soldaten der Rebellen kamen ihnen entgegen, und Farouz sagte, gelegentlich hätten sie aus keinem ersichtlichen Grund, einfach nur zum Spaß die Leute erschossen. Er und sein Bruder waren inzwischen so verängstigt, dass sie kaum noch zusammenzuckten. Sie dachten, Allah werde sie entweder beschützen oder eben nicht.
Der schwierigste Teil begann aber erst, als sie die Stadt hinter sich gelassen hatten und das Land erreichten. Eigentlich war es eine Wüste, in der nur vereinzelt Büsche wuchsen. Dort wurde es richtig gefährlich.
Sie sahen, wie alte Männer aufgaben und sich an den Straßenrand setzten, um zu sterben.
Am zweiten Tag begrub eine Mutter ihr Kind in der ausgelaugten staubigen Erde. Es sollte nicht das letzte Mal sein, dass sie so etwas beobachteten. Farouz fürchtete sich sehr und beneidete die toten Kinder. Unter der Erde, zugedeckt von den Müttern, waren sie sicher.
Sie beobachteten, wie manche Menschen über die Schwachen herfielen – nicht nur die Soldaten der Rebellen, sondern auch die Einwohner der Dörfer, durch die sie kamen. Die Frauen, die wenigen Habseligkeiten, das Geld der Flüchtlinge, es war eine viel zu große Versuchung.
Farouz und sein Bruder hatten gerade eine Ansammlung von Hütten hinter sich gelassen, als die Männer sie aufgriffen. Die beiden liefen durch eine Baumgruppe, Schatten besprenkelten den Boden, Vögel sangen. Auf einmal traten ihnen die Männer in den Weg. Farouz wusste nicht, ob es Soldaten waren oder irgendwelche anderen Leute. Jedenfalls trugen sie Waffen.
Was die Männer sagten und was sein Bruder antwortete, konnte Farouz später nicht mehr wiedergeben. Allerdings erinnerte er sich daran, was Abdirashid ihm nach der Unterhaltung mit den Männern mitzuteilen hatte.
Sein älterer Bruder legte ihm die Hände auf die Schultern.
»Kleiner Bruder«, sagte er, »du musst hierbleiben, während ich mit den Männern für eine Weile weggehe. Ganz egal, was du hörst, du darfst mir nicht folgen. Hast du mich verstanden? Du musst ganz still sein.«
»Nein«, widersprach Farouz. »Ich will nicht, dass du weggehst. Bleib bei mir!«
»Es tut mir leid«, bekräftigte sein Bruder. »Aber du musst eine Weile hier warten. Dir wird nichts geschehen. Wenn du dich rührst, erfahre ich es, und dann wird etwas Schlimmes passieren. Ich muss sterben, und du bist allein.«
Er wandte sich an die Männer, und an dieses Gespräch erinnerte Farouz sich ganz genau, weil es sich in seine Erinnerung eingebrannt hatte.
»Ihr rührt meinen kleinen Bruder nicht an«, sagte Abdirashid. »Und noch etwas. Ich will ein Messer, das ich behalten kann.«
Einer der Männer, der eine Machete besaß, lachte laut.
»Ein Messer?«
»Ja. Zum Schutz.«
»Zum Schutz vor wem?«
»Zum Schutz vor Leuten wie dir«, erwiderte Abdirashid kühn.
Der Mann schüttelte den Kopf, als traue er seinen Ohren nicht. Er zog ein scharfes kleines Jagdmesser aus der Tasche.
»Eins wie dieses?«
»Ja«, sagte Abdirashid. »So eins.«
»Vergiss es!«, widersprach ein anderer Mann. Ihm fehlten die Schneidezähne. Auch dies sollte Farouz nie mehr vergessen. »Wir tun es einfach, und dann töten wir die beiden. Auf dieser Straße überleben sie sowieso nicht.«
Der Mann mit der Machete wurde wütend.
»Nein. Der Junge hat eine Abmachung getroffen.« Dann wandte er sich an Farouz. »Vergiss nicht, was dein Bruder für dich getan hat! Er ist ein tapferer kleiner Mann. Vergiss das nie!«
Ich glaube, deshalb erinnerte Farouz sich daran. Weil der Mann ihm gesagt hatte, dass er es nicht vergessen dürfe.
Danach nahmen die Männer Abdirashid mit auf die andere Seite der Baumgruppe, wo Farouz sie nicht mehr sehen konnte. Farouz hörte seinen Bruder schreien, natürlich hörte er ihn, aber er rührte sich nicht, weil sein Bruder ihm gesagt hatte, er müsse ganz still bleiben, und Abdirashid werde umkommen, wenn Farouz sich aus dem Schatten des Baums entferne, unter dem er stand.
Wenn er diese dunkle Linie überschritt, werde er seinen Bruder verlieren.
Also stand er ganz still dort, während sein Bruder schrie, bis alle Vögel aus den Bäumen
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