Nur dein Leben
gegenüber auch so liebevoll verhalten würden. Stimmt, sie machen Fortschritte, je älter sie werden. Schade, dass sie nicht öfter lächeln – es sieht so hübsch aus!«
73
DER APOSTEL VERBRACHTE DIE NACHT in einer Jugendherberge an der Bowery, wo er sich abseits hielt und am bitterkalten Morgen genauso unauffällig verschwand, wie er gekommen war. In wenigen Wochen würde sich niemand mehr an ihn erinnern.
In einem belebten Café nahm er ein einfaches Frühstück zu sich, dann fuhr er mit der U-Bahn ins West Village und gelangte in eine Straße, in der es vor Menschen wimmelte – hunderte verschiedener Gerüche, eine Kakophonie tausender verschiedener Geräusche. Es hatte angefangen zu schneien. Reine weiße Flocken fielen und verwandelten sich in schmutzigen grauen Matsch, kaum waren sie zu Boden gefallen.
Bereits nach wenigen Minuten fand er das zweite Internetcafé auf seiner Liste, doch alle Computer waren besetzt, und er musste sich in die Reihe der Wartenden setzen. Eine schlampig gekleidete junge Frau versuchte, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Sie heiße Elaine, sagte sie, würde aber von ihren Freunden Ellie genannt. Sie fragte ihn, wo er wohne, und er sagte: New Jersey. Sie ließ nicht locker, ärgerte ihn mit ihrer Aufdringlichkeit, wollte wissen, womit er seinen Lebensunterhalt verdiene. Er antwortete, er arbeite für den Herrn.
Sie redete weiter auf ihn ein, sah ihn in einer Art und Weise an, die ihm unangenehm war, rückte näher, sandte Signale aus. Führte ihn in Versuchung. Satan hatte sie geschickt, das merkte man, man merkte es immer, er hatte sie ausgesandt, um seine Liebe zu Lara zu zerstören.
Der nächste Computer wurde frei, und er flüchtete vor ihr, schickte ein Dankgebet zu Gott und setzte sich an seinen Platz. Joël Timotheus gab seinen Benutzernamen und sein Passwort ein und loggte sich in seinen Hotmail-Account ein.
Eine neue E-Mail wartete auf ihn.
Der Herr wird ihn beschützen und sein Leben erhalten, Er wird ihn in dem fremden Land segnen und ihn nicht den Begierden seiner Feinde ausliefern.
Der Apostel löschte die Mail, loggte sich aus und verließ das Café. Er lächelte. Rasch kehrte er zur U-Bahn zurück und achtete weder darauf, wie tief er einatmete, noch von welchen Geräuschen er umgeben war. Er hatte jetzt Wichtigeres im Sinn. Reisepläne. Noch nie hatte er die USA verlassen.
Jetzt würde er nach England fliegen.
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DIE GRUPPENRÄUME WAREN NOCH WEIHNACHTLICH GESCHMÜCKT. An einer Wand hing ein von den Kindern gemaltes, politisch korrektes Poster der Heiligen Drei Könige, jeder mit einer anderen ethnischen Zugehörigkeit. Sheila Michaelides sah aus einem gewissen Abstand heraus zu, wie Naomi Luke und Phoebe aus den Mänteln half, diese an die Haken hängte und den Raum verließ.
Sofort nahm die Psychologin eine Veränderung an den Zwillingen wahr. Es schien, als seien sie durch den Fortgang der Mutter wie elektrisiert. Luke, gefolgt von Phoebe, ging in das Hauptspielzimmer. Sheila stellte sich in die Tür, um sie weiter beobachten zu können, und war vom ersten Moment an entsetzt.
Im Zimmer hielten sich etwa ein Dutzend Kinder auf, die meisten in kleinen Gruppen, beaufsichtigt von einer jungen Erzieherin etwa Anfang dreißig in Jeans und Norwegerpulli. Als Luke und Phoebe hereinkamen, erstarben schlagartig alle Geräusche, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Keines der anderen Kinder suchte Blickkontakt mit den Zwillingen; stattdessen schienen sie zurückzuweichen oder in Schreckstarre zu verfallen. Es war wie ein Stillleben.
Die Psychologin starrte die Erzieherin an, die Luke und Phoebe zutiefst misstrauisch beobachtete.
Luke marschierte direkt auf einen Tisch zu, an dem sich zwei Jungen noch vor wenigen Augenblicken um einen kleinen Ritter zu Pferd gestritten hatten. Luke nahm ihnen die Figur wortlos aus der Hand. Keiner der Jungen sah ihn an. Luke warf einen verächtlichen Blick auf das Spielzeug und warf es zurück auf den Tisch. Phoebe kniete unter dem Tisch und starrte einige Puppen an. Michaelides sah, wie zwei kleine Mädchen mucksmäuschenstill dasaßen, reglos, zitternd.
Anschließend ging Luke an einen Tisch, an dem vier Kinder mit Lego spielten. Seine Hände bewegten sich so schnell, dass die Kinderpsychologin ihnen nicht mehr folgen konnte. Sie sah nur noch ein verschwommenes Huschen, wirbelnde bunte Plastikbausteine, den starren Blick der Erzieherin. Die anderen Kinder standen da, vor Angst wie angewurzelt. Luke wandte sich
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