Nur dein Leben
ab und ließ sie stehen.
Unwillkürlich schlug die Psychologin eine Hand vor den Mund. Sie traute ihren Augen nicht. Der Lego-Turm, der eben noch unregelmäßig und sichtlich schief gewesen war, stand jetzt kerzengerade und um einiges höher da, auf jeder Seite gleichmäßig in einer Farbe, so dass er einem länglichen Zauberwürfel glich. Gekrönt wurde er von einem perfekten Spitzdach.
Kurz darauf musste sie Luke und Phoebe ausweichen, weil sie hinaus auf den Flur gingen. Wie Tiere, die aus dem Winterschlaf erwachen, drehten die anderen Kinder eines nach dem anderen den Kopf zur Tür, als wollten sie sichergehen, dass sie wirklich weg waren.
Sheila Michaelides sträubten sich die Nackenhaare.
Sie beobachtete, wie sich Luke und Phoebe dem Jungen näherten, der gerade am Computer spielte. Sie stellten sich rechts und links von ihm hin, drehte sich zu ihm um und sagten etwas.
Sofort sprang der Junge von seinem Stuhl auf und rannte den Flur hinunter, zitternd und brüllend wie am Spieß. Pat Barley erschien aus der Küche. Sie warf der Psychologin einen besorgten Blick zu und nahm den Jungen in den Arm.
»Was ist denn, Matthew? Was ist passiert?«
Er schmiegte sich Schutz suchend an sie und schrie wie ein verängstigtes Tier.
Seine Angst griff jetzt auch auf die Psychologin über, die eine Gänsehaut bekam. Sie versuchte, zu verstehen, was der Junge sagte, aber er stammelte nur unzusammenhängendes Zeug. Zugleich beobachtete sie Luke und Phoebe, die inzwischen völlig in den Computer vertieft waren, den sie erobert hatten.
Doch was genau hatten sie zu dem Jungen gesagt?
Nach einigen Minuten befreite sich Pat Barley, gesellte sich zu der Psychologin auf dem Flur und bedeutete ihr mit einem Blick, sich etwas von den Zwillingen zu entfernen.
»Was hat der kleine Matthew gesagt?«, fragte die Psychologin die Erzieherin. »Womit haben Luke und Phoebe ihm solche Angst eingejagt?«
»Ich weiß es nicht. Es ist immer dasselbe – auch die anderen Kinder erschrecken sie so. Ich vermute, es liegt nicht einmal so sehr an dem, was sie sagen, sondern daran, wie sie es sagen. Zumal sie auch noch so viel älter aussehen als die anderen.«
Sheila Michaelides sagte leise: »Ich habe schon viele Kinder mit ziemlich erschreckenden Verhaltensauffälligkeiten gesehen. Gewalttätige Kinder, unkontrollierbare Kinder, krankhaft schüchterne Kinder – aber noch nie habe ich so etwas … so etwas wie hier erlebt, in diesen letzten Minuten.«
»Mir geht es genauso«, pflichtete Pat Barley ihr bei. »Und ich habe im Laufe der Jahre so einige Quälgeister mitgemacht, glauben Sie mir.«
»Werden sie auch körperlich gewalttätig? Haben sie je ein anderes Kind tätlich angegriffen?«
»Nein, das hat niemand von uns beobachtet. Es ist eher etwas auf psychischer Ebene, sie manipulieren die anderen. Und wenn ich versuche, mit ihnen zu reden, sagen sie entweder absolut nichts oder speisen mich mit unverständlichem Gebrabbel ab.«
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass ich herkommen und sie beobachten durfte«, sagte die Psychologin.
»Verstehen Sie jetzt, warum ich sie ausschließen musste?«
»Ja.«
Einige Momente lang beobachteten beide Luke und Phoebe. Von hinten glichen sie normalen, glücklichen Kindern, die miteinander spielten. Dann sagte Pat Barley: »Gott weiß, wie sie sein werden, wenn sie einmal älter sind.«
75
Naomis Tagebuch
Schnee! Zehn Zentimeter! Alles ringsum ist weiß, so weit das Auge reicht! Was für ein wunderbarer Start ins neue Jahr! John hat einen Schlitten gekauft und ist mit L & P rauf in die Downs gefahren. L begeistert, P miesepetrig. Ein Kind, das keinen Schnee mag?
Ab nächste Woche gehen sie in eine Spielgruppe für hochbegabte Kinder mit Förderbedarf, die Dr. Michaelides vorgeschlagen hat ( SM – irgendwie passend, die Initialen!).
Endlich habe ich es geschafft – in meinen dunkleren Stunden, wenn ich damit hadere, was wir getan haben – oder besser: was Dettore getan hat –, mich davon zu überzeugen, dass die menschliche Spezies weder etwas Großartiges noch Besonderes ist. Dass das Leben wertvoll, ja, sakrosankt sei – alles Quatsch. Vielleicht für diejenigen unter uns, jenen kleinen Prozentsatz, der in den Industrienationen lebt. Aber was hat Dettore noch mal gesagt? Weniger als 20 % der Weltbevölkerung können lesen und schreiben? Bin nicht sicher, wie wertvoll ich das Leben fände, wenn ich jeden Tag bis zu den Knöcheln im Wasser auf einem Reisfeld schuften und mit
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