Nur dein Leben
neun Kindern in einer Wellblechhütte schlafen müsste. Würde das wohl nicht mal Leben nennen – eher Dahinvegetieren.
Bald werden sie drei. Was sollen wir ihnen schenken? Überlegen, ob wir eine Geburtstagsfeier veranstalten und Kinder aus dem Dorf einladen sollen. Aber welche Mutter würde wohl ihre Kinder bringen wollen? Könnte peinlich werden. Besonders, wenn Luke und Phoebe ihre Gäste ignorieren.
76
LUKE SASS MIT EINEM PLAYSTATION-JOYSTICK in der Hand hochkonzentriert auf dem Wohnzimmerfußboden. Phoebe kniete ebenso aufmerksam neben ihm, starrte auf den Bildschirm und erteilte hin und wieder ihrem Bruder ein scharfes Kommando.
Ein Mann in einem langen Umhang kletterte eine endlose, finstere Wendeltreppe hinauf, Eichentüren, hinter denen seltsame Kreaturen lauerten – manche schauerlich, manche schön, andere schlicht bizarr –, öffneten und schlossen sich. Manchmal drückte Luke auf Phoebes Befehl einen Knopf und der Mann duckte sich, dann wieder drehte er sich abrupt um hundertachtzig Grad.
Vielleicht bildete sie es sich nur ein, aber Naomi hatte den Eindruck, dass Dr. Sheila Michaelides ihr und John gegenüber inzwischen etwas weniger ablehnend war. Die Psychologin stand unaufdringlich im Hintergrund des Raumes, beobachtete alles, was vor sich ging, machte sich ab und zu eine Notiz auf einem kleinen Block, sagte aber nichts. Sie hatte Luke und Phoebe zwei Tage lang in der Spielgruppe für Hochbegabte beobachtet, und heute war sie den ganzen Tag bei ihnen zu Hause und spielte Mäuschen. Doch wenigstens würden sie endlich eine fundierte Meinung über ihre Kinder erhalten, dachte Naomi, und hoffentlich praktische Ratschläge, wie sie mit ihnen umgehen sollten.
Die Psychologin stand in der Badezimmertür und sah zu, wie Naomi und John die Kinder badeten und abtrockneten. Luke und Phoebe schienen ihre Anwesenheit zu akzeptieren, wie sie die meisten Dinge akzeptierten: Sie blendeten sie einfach aus. Für die Kinder war sie quasi unsichtbar.
Unten setzten sie sich an den Küchentisch. Sheila Michaelides legte ihren Notizblock vor sich hin und wirkte befangen. Sie rührte in ihrem Kaffee und nahm ein Ingwerplätzchen von dem Teller, den Naomi ihr anbot. Dann sagte sie: »Dr. und Mrs. Klaesson, ich muss zugeben, dass ich mir große Sorgen um Luke und Phoebe mache. Es gibt zwar das eine oder andere, was Sie als Eltern verbessern können, aber meinen Beobachtungen nach ist das nicht die Wurzel des Übels.«
»Was könnten wir denn verbessern?«, fragte Naomi defensiv.
»Und was meinen Sie mit der ›Wurzel des Übels‹?«, ergänzte John.
»Tja«, sagte die Psychologin, legte das Plätzchen auf ihren Teller und starrte einen Moment lang gedankenverloren in den Dampf, der von ihrer Kaffeetasse aufstieg. »Ich brauche etwas Zeit, um meine Beobachtungen zu verarbeiten und mich mit einigen meiner Kollegen zu beraten. Eines kann ich jedoch jetzt schon sagen: Sie erhalten offensichtlich nicht das Maß an Liebe und Zuneigung von Ihren Kindern, das ich normalerweise erwarten würde. Zwar gibt es bei Zwillingen eine Tendenz, sich wesentlich länger selbst zu genügen als einzelne Kinder, aber Luke und Phoebe sind jetzt schon fast drei Jahre alt.« Sie zögerte, sah ihnen ins Gesicht und fügte hinzu: »Sie wirken kalt und sehr verschlossen, was unter anderen Umständen auf ein Fehlverhalten der Eltern hindeuten würde …«
»Ein Fehlverhalten?«, unterbrach sie Naomi. »Was wollen Sie damit sagen?«
»Missbrauch zum Beispiel«, antwortete Sheila Michaelides. Naomi öffnete den Mund, kurz vor dem Explodieren, doch John griff sie am Arm. »Beruhige dich, Schatz.«
»Ich will damit in keiner Weise andeuten, dass dies der Fall ist – nichts, was ich gesehen habe, deutet auch nur im Geringsten auf eine Form der Misshandlung Ihrerseits hin. Im Gegenteil: Ich halte Sie für sehr liebevolle, zugewandte Eltern.«
Es herrschte eine angespannte Stille, während sie ihre Notizen durchblätterte.
»Was genau meinen Sie mit diesen Verbesserungen im Umgang mit ihnen?«, fragte Naomi erneut.
»Nehmen wir einmal den ersten Morgen, an dem ich vor der Spielgruppe hierhergekommen bin. Sie sind aus der Küche gegangen und haben mich mit ihnen allein gelassen. Die Zwillinge zeigten keinerlei Angst vor mir – einer völlig Fremden. Kinder, die eine solide Bindung zu ihren Eltern haben, fürchten sich wesentlich mehr vor Fremden, als die, deren Bezug zu Vater und Mutter schwächer ist.«
»Aber wir haben seit
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