Nur dein Leben
nach vorn, wickelte die Schnur vom Haken und ließ die Jalousie hinunter.
Sie zitterte. Gepackt von einer Angst, die sie nicht beim Namen nennen konnte. Stets hatte sie die Kontrolle innegehabt – jetzt fühlte sie sich zum ersten Mal hilflos. Luke und Phoebe Klaesson litten an einem Syndrom, das ihr noch nie begegnet war und ihr immer unheimlicher wurde.
Sie begann mit ihrem Bericht.
Beobachtung von Luke und Phoebe Klaesson. Dritter Tag.
Das sind keine richtigen Kinder. Sie sind in einer Art und Weise manipulativ und berechnend, die nur darauf schließen lässt, dass sie kein menschliches Mitgefühl besitzen. Es gibt deutliche Anzeichen für soziopathische Verhaltensweisen, aber darüber hinaus …
Sie hielt inne und dachte einen Moment nach. Sie musste sich mit Kollegen über den Fall austauschen, aber mit wem?
Die Fensterblattpflanze, die den Spalt zwischen ihrem Schreibtisch und der Wand ausfüllte, war in einem erbärmlichen Zustand und brauchte dringend Wasser. Sie ging hinunter, füllte die Gießkanne, kehrte zurück und goss den Inhalt auf die trockene Erde, wobei sie grübelte und grübelte.
Und grübelte.
Sie setzte sich wieder an den Computer und schrieb:
Autismus? Erklärung für ihre Sondersprache?
Doch welche Erklärung konnte es geben?
Widerwillig aß sie noch einen Bissen Nudeln und dachte unablässig nach. Irgendwo mussten doch noch andere solcher Fälle beschrieben sein, in Veröffentlichungen, in Büchern, ganz gewiss!
Sie war Mitglied einer Newsgroup von Kinderpsychologinnen und -psychologen im Internet, die wöchentlich einen Überblick über ihre Fälle, neue Behandlungsmethoden, neue Medikamente und allgemeine Informationen veröffentlichten. Die Gruppe war hochkompetent und setzte sich aus Psychologinnen und Psychologen aus über dreißig Ländern zusammen. Bisher hatte sie auf jede ihrer Fragen Antworten erhalten.
Sie verfasste eine E-Mail, in der sie ihre Beobachtungen von Luke und Phoebe zusammenfasste und fragte, ob irgendjemand schon einmal Vergleichbares bei Patienten erlebt habe.
Zu ihrer Überraschung erhielt sie am nächsten Tag E-Mails von zehn ihrer Kollegen: Fünf kamen aus den Vereinigten Staaten, eine aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, eine aus Brasilien, eine aus Italien, eine aus Deutschland und eine aus der Schweiz.
Vier der Psychiater und Psychiaterinnen, die sich meldeten, teilten ihr unabhängig voneinander mit, dass die Zwillinge mit ähnlichen Charakteristika in ihren Praxen alle in der Offshore-Klinik des ermordeten amerikanischen Genetikers Dr. Leo Dettore gezeugt worden seien.
Sie googelte den Namen
Dr. Leo Dettore.
Unter den ersten angezeigten Treffern trug einer die Überschrift:
Zeitung.
USA
Today
. Juli 2007 . Dr. J. Klaesson.
L.A.- PROFESSOR GESTEHT : » WIR ERWARTEN EIN DESIGNERBABY «
80
MR. PINEAPPLE HEAD trug gestreifte Hosen, riesige Schuhe, eine rote Nase und einen Lederhut in Form einer Ananas. Er war ein Bombenerfolg, jedenfalls bei den vier Kindern, die zu Lukes und Phoebes Geburtstag gekommen waren und sich vor Lachen schüttelten. Auch John und Naomi, Naomis Mutter, ihre Schwester Harriet und Rosie fanden seine Faxen wirklich lustig.
Die Einzigen, die sich nicht amüsierten, waren Luke und Phoebe. Sie saßen auf dem Boden, starrten den Mann verstockt an und schmetterten jeden seiner Versuche ab, sie in seine Show mit einzubeziehen.
John und Naomi hatten es nicht leicht gehabt, Kinder zu finden, die zur Geburtstagsfeier kommen wollten. Jane Adamson, Naomis Freundin im Dorf, hatte pflichtbewusst ihren Sohn Charlie abgeliefert, den es sichtlich Überwindung kostete. Mit einer Hand umklammerte er ein Geschenk, mit der anderen die Hand seiner Mutter, während er die Zwillinge nervös beäugte. Außerdem hatte Naomi ein schüchternes Mädchen namens Bethany eingeladen, das erst diese Woche mit ihren Eltern hierher gezogen war und noch keinen kannte. Rosie hatte ihre jüngste Tochter Imogen mitgebracht, und eine Kollegin von John ihren temperamentvollen vierjährigen Sohn Ben.
Plötzlich, mitten in der Vorführung, standen Luke und Phoebe auf und verließen das Zimmer.
Naomi wechselte einen Blick mit John, der am Rande des Geschehens stand und eifrig fotografierte. Naomi folgte den Kindern hinaus auf den Flur und schloss die Tür hinter sich. »Luke!«, rief sie. »Phoebe! Wo wollt ihr hin?«
Sie reagierten nicht, sondern liefen weiter die Treppe hinauf.
Naomi hob die Stimme. »Luke! Phoebe! Kommt sofort runter! Es
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