Nur dein Leben
musste schon genau hinsehen, um zu erkennen, was es war. Und dennoch …
Kein Leben war unbedeutend. Manche Insekten mochte man töten, Mücken zum Beispiel, weil sie stachen – oder auch eine Wespe im Kinderzimmer, oder unhygienische Tiere wie Küchenschaben. Manche wilden Tiere musste man töten, weil sie gefährlich für einen selbst oder das Vieh auf der Weide waren, andere wieder wurden getötet, weil sie als Nutztiere gezüchtet worden waren.
Aber aus Neugier zu töten?
Na ja, in Laboren. Fruchtfliegen, Mäuse, Frösche, die verschiedensten Lebewesen ließen im Namen der Wissenschaft, im Namen der medizinischen Forschung ihr Leben. Andauernd wurden Kreaturen getötet, um Fortschritte zu erzielen. Damit hatte er kein Problem. Zwar hatte er den Anblick von toten Tieren noch nie vertragen, aber es gab auch triftige Gründe zu töten.
Wenn er an seine Kindheit dachte, musste er ehrlich zugeben, dass er mit einer Schleuder auf Vögel geschossen hatte. Eines Tages hatte er einen Spatzen mit einem Schuss getötet und ihn von dem Ast, auf dem er hockte, ins Gras fallen sehen. Er war hingerannt und Blutstropfen waren aus dem Schnabel gequollen. Er nahm das noch warme Körperchen in die Hände, versuchte, es aufzurichten und seine Flügel zu bewegen, damit es losflog und sich erholte. Weinend legte er den Spatz wieder in den Baum, damit die Katze ihn nicht erwischte. In der Hoffnung, er würde sich aufrappeln und davonfliegen.
Doch am nächsten Morgen war er immer noch da, kalt und starr, wie ein mit Federn beklebter Stein. Beschämt trug er ihn in den Wald, grub mit bloßen Händen ein kleines Grab und legte einen Stein und Blätter darauf.
Es war normal, dass Kinder Tiere töteten, das wusste er. Es gehörte zum Erwachsenwerden. Ein Initiationsritus, der möglicherweise etwas mit dem Erbe der Jäger und Sammler zu tun hatte. Aber hätte er jemals ein Haustier töten können? Ein Wesen, das er gehegt und gepflegt, mit dem er gespielt und das er in den Armen gehalten hatte, das er umarmt und dem er Gutenachtküsse gegeben hatte, so wie es Luke und Phoebe mit Karamell und Nutella getan hatten?
Etwas, das Dr. Michaelides gesagt hatte, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf:
Ich bin mir nicht sicher, ob Ihre Kinder in der Lage sind, zu begreifen, was ein normales menschliches Miteinander bedeutet.
Hatte sie ihnen andeuten wollen, dass ihre Kinder Psychopathen waren?
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ZU HAUSE WAR ALLES RUHIG. Noch war niemand aufgestanden. Gut. Die Kinder mussten für das, was sie getan hatten, bestraft werden, aber wie? Wie konnte man ihnen beibringen, dass es falsch war, seine eigenen Haustiere zu töten? Wie konnten sie erreichen, dass sie ihnen auch wirklich zuhörten?
Noch immer im Trainingsanzug, verschwitzt und rasch abkühlend nach seinem Lauf, bereitete er Naomi ihr übliches Sonntagsfrühstück zu: eine Tasse Tee, Toast und Marmite. Das alles trug er zusammen mit der Zeitung zu ihr hinauf ins Schlafzimmer.
Sie saß im Bett und sah sich im Fernsehen ein Interview von Andrew Marr mit dem Finanz- und Wirtschaftsminister an. John griff nach der Fernbedienung, senkte die Lautstärke und erzählte ihr von den Meerschweinchen, so sehr es ihm auch widerstrebte, ihr den Morgen zu verderben.
Sie erblasste, sagte zunächst lange nichts, nahm dann seine Hand und bat: »Könnten wir das bitte Harriet verschweigen – und auch meiner Mutter? Könnten wir das für uns behalten?«
Er setzte sich neben sie aufs Bett und warf einen Blick auf die Schlagzeilen der
Sunday Times
. »Einverstanden. Ich möchte auch nicht, dass sie es erfahren.«
»Wir könnten einfach sagen – dass – die Kinder die Tür offen gelassen haben und sie weggelaufen sind … oder?«
Er erwiderte: »Ich stelle mal schnell den Käfig raus. Deine Mutter merkt sowieso nichts, und wenn Harriet etwas sagt, behaupte ich, ich hätte sie rausgesetzt und die Tür offen gelassen.«
»Wir müssen mit Luke und Phoebe reden und ihnen erklären, dass sie so etwas nicht tun dürfen. Wir müssen zu ihnen durchdringen, John, wir müssen es ihnen begreiflich machen! Sie müssen dafür bestraft werden.«
»Aber weißt du, wie? Mir fällt nichts ein. Dr. Michaelides hat gesagt …«
»Ich erinnere mich sehr deutlich daran, was sie gesagt hat. Aber wir sind ihre Eltern, wir haben sie auf die Welt gebracht, wir tragen die Verantwortung für sie. Sie sind erst drei Jahre alt, verdammt nochmal! Was werden sie anstellen, wenn sie vier sind? Oder fünf? Vielleicht schneiden
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