Nur dein Leben
einem Becher wie eine kleine Madam.
John gab erst seiner Schwiegermutter, dann Harriet, die in die
Sunday Times
vertieft war, einen Gutenmorgenkuss. »Habt ihr gut geschlafen?«, fragte er und setzte sich.
Seine Schwiegermutter trug ein Kostüm, förmlich, als wolle sie zur Kirche gehen. John hatte im Laufe der Jahre festgestellt, dass sie sich sonntags immer schick anzog, eine Reminiszenz an ihre streng religiöse Erziehung. Mit ihrer schüchternen Stimme antwortete sie: »Danke, wie ein Stein. Ich schlafe hier immer sehr gut.«
Harriet, in einem groben Seemannspullover und mit ungekämmten Haaren, blickte von der Zeitung auf und tippte mit einem Finger auf die Seite. »Lest ihr manchmal die Kolumne von Arnie Wilson? Er ist der beste Skisport-Autor – diesmal hat er einen wirklich witzigen Artikel über Carver geschrieben.«
»Nein, habe ich bisher noch nicht«, gestand John. Er lächelte geistesabwesend und nahm sich etwas Obstsalat, wobei er beobachtete, wie sich Luke einen Berg Zucker auf seine Frühstücksflocken häufte.
»Ich glaube, das ist jetzt genug Zucker, Schatz«, bemerkte Naomi.
Ohne sie zu beachten, fuhr Luke erneut mit dem Löffel in die Zuckerdose.
Gereizt nahm Naomi sie ihm weg. »Ich habe gesagt, es reicht!«
Luke starrte sie aufsässig an. Ein unbehagliches Schweigen entstand.
»Habt ihr beiden denn auch gut geschlafen, Luke und Phoebe, Schätzchen?«, fragte Johns Schwiegermutter.
Die Zwillinge ignorierten sie.
»Antwortet Granny!«, befahl Naomi und goss Milch über Lukes Rice Krispies.
Phoebe leckte ihren Löffel ab, hielt ihn vor die Augen, als inspiziere sie ihn und erklärte: »Schlafen ist doof.«
Luke aß den Mund leer und fügte hinzu: »Ich schlafe überhaupt nicht.«
»Wirklich?«, fragte seine Großmutter. »Du schläfst nicht?«
Luke schob sich noch einen Löffel Rice Krispies in den Mund, und für einen Augenblick war das Knuspern der Frühstücksflocken das einzige Geräusch im Raum.
John und Naomi wechselten einen Blick. John teilte ihr mit:
Hey, wenigstens sprechen sie, das ist ein Durchbruch, ein Fortschritt! Eine Art Fortschritt jedenfalls …
Harriet schlug die Seite um. »Warum schläfst du nicht, Luke?«
»Weil nur Tote schlafen«, antwortete er.
Diesmal mied John Naomis Blick. Er gabelte eine Mangospalte auf und aß sie, ohne etwas zu schmecken, die Augen auf Harriet gerichtet, gespannt auf ihre Reaktion.
»Ich habe letzte Nacht geschlafen«, erwiderte sie. »Aber ich glaube nicht, dass ich tot bin!«
»Ich habe auch geschlafen«, fügte Lukes Großmutter hinzu. »Aber deswegen bin ich nicht tot, oder?«
Luke fuhr mit dem Löffel in die Frühstücksflocken und bemerkte dann leichthin: »Wirst du aber bald sein, Granny.«
85
Naomis Tagebuch
Ist es falsch von mir, L und P ständig mit Halley zu vergleichen? Mein armer, lieber, süßer, unschuldiger Halley. Natürlich weiß jeder, dass Kinder manchmal Taktlosigkeiten von sich geben, und Mutter hat es mit Humor getragen, und dennoch … Gott sei Dank haben weder sie noch Harriet bemerkt, dass die Meerschweinchen nicht mehr da waren. Aus was für einer aufmerksamen Familie ich doch stamme!
Halley, mein kleiner Schatz, ich vermisse dich so sehr! Vielleicht klingt das verrückt, aber weißt du, was ich mir erhofft habe, als wir zu Dr. Dettores Klinik gereist sind? Dass wir dich zurückbekommen würden, aber ohne die schreckliche Krankheit. Dass das neue Baby du sein würdest, gesund wiedergeboren. Doch in Luke und Phoebe erkenne ich nichts von dir wieder. Du warst so sanft, so süß, so liebevoll. Du hast manchmal lustige Dinge von dir gegeben, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass du je so etwas gesagt hättest, wie Luke heute beim Frühstück zu meiner Mutter. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass du je ein Tier getötet hättest.
Vielleicht findest du das merkwürdig, aber manchmal spüre ich dich richtig in meiner Nähe. Du hältst meine Hand und sagst, ich solle mir keine Sorgen machen. Wenn ich das nicht spüren würde, würde ich sicherlich zusammenbrechen. Dein Vater ist so viel stärker als ich. Ich wünschte, ich besäße seine Ruhe, diese innere Stärke, diese Gewissheit, dass am Ende doch alles gutgehen werde.
Du bist an einem Sonntag auf die Welt gekommen und an einem Sonntag gestorben. Viele Leute mögen Sonntage – ich nicht. Ich bin oft so traurig am Sonntag. Heute auch. Es war so ein wunderschöner Morgen, doch dann wurde alles verdorben durch das, was mit Karamell und
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