Nur dein Leben
herausforderndes Grinsen über sein Gesicht huschen, ganz kurz nur, so, dass sie fast glaubte, sie habe es sich nur eingebildet. Dann stand er auf, zuckte mit den Schultern, ging hinauf und kam mit zwei Kapseln wieder.
Einige Zeit später schreckte Naomi hoch. Sie war auf dem Sofa eingeschlafen. Eine ihr unbekannte Rockband spielte im Fernsehen, aber der Ton war abgestellt. Der köstliche Duft von gebratenem Fleisch stieg ihr in die Nase. Bereitete John das Abendessen zu?
Sie hievte sich vom Sofa hoch und ging in die Küche. Dort blieb sie wie angewurzelt stehen.
Phoebe stand auf einem Hocker und rührte in einer großen Pfanne auf dem Herd. Luke stand auf einem anderen Hocker und würfelte geschälte Kartoffeln, ein Kochbuch lag aufgeschlagen neben ihm.
Als hätte sie ihr Eintreten gespürt, drehte sich Phoebe mit engelsgleichem Lächeln zu ihrer Mutter um und sagte fröhlich: »Hi, Mummy!«
»Was – was macht ihr denn da?«, fragte Naomi, ebenfalls lächelnd.
»Daddy muss arbeiten, und weil es dir nicht gut geht, haben Luke und ich uns vorgenommen, heute für uns das Abendessen zu kochen. Es gibt Köttbullar und Janssens Versuchung – Kartoffeln mit Sahne und Anchovis, das gibt es doch immer an Weihnachten, und wir wissen, wie gerne du das isst!«
Naomi war sprachlos.
93
LARA FROR. Zitternd und hellwach saß sie in ihrem Bett im Wohnheim am Fuß des Felsens, unmittelbar unterhalb des Klosters. Draußen wütete ein Sturm. Das Ägäische Meer, das an die kaum hundert Meter entfernten Klippen brandete, klang, als wolle es das Gebäude verschlingen, vielleicht sogar die ganze Insel. Dröhnende Wasserexplosionen wie Donnerhall.
Gott liebt mich, und Jesus liebt mich, und die Jungfrau Maria liebt mich.
Und mein Apostel liebt mich.
Und ich gehöre dazu.
Diese Dinge waren Lara wichtig. Als Kind hatte sie immer das Gefühl gehabt, anders zu sein als die Menschen in ihrer Umgebung. Sie fühlte sich als Außenseiterin, ohne familiäre Bindung, unfähig, sich in der Schule einzugliedern und mit ihren Mitschülern Kontakte zu knüpfen. Sie war eine Einzelgängerin, obwohl sie es hasste, eine zu sein. Sie sehnte sich danach, dazuzugehören. Teil eines Kollektivs zu sein, gewollt, gebraucht zu werden.
Sie liebte die Menschen, bei denen sie jetzt lebte, und ihre gemeinsame Vision. Sie teilte ihre Ansichten. Besonders begrüßte sie ihre Einstellung, dass man sich nicht vor der Welt verschließen durfte, sondern manchmal hinausgehen, sich der Niedertracht stellen und für Gott gegen den Satan kämpfen musste.
Auf einmal hörte sie über die Brandung hinweg das schwache Echo des Holzgongs, der die Mönche zur Matutin rief und von den Klostermauern hoch über ihr widerhallte. Es war halb drei morgens.
Sie verbrachte jetzt ihren dritten Januar hier und jeder war gleich rau gewesen. Obwohl ihr Zimmerfenster geschlossen war, spürte sie den Luftzug des eisigen Sturms draußen im Gesicht und wickelte sich fester in die Decken ein.
Dann legte sie die Hände aneinander und betete.
Betete für den Mann, dessen Foto auf ihrer Holzkommode stand. Sie betete mit heißem Herzen und kalten Händen, die von der schweren Arbeit gerötet und schwielig waren. Dieser liebe, liebe Apostel mit seiner sanften Stimme und all den träumerischen Versprechen, die sie einander gegeben hatten.
Timon.
Die Erinnerungen an die Woche, in der sie Seite an Seite in der Kapelle gebetet hatten und die Nacht, die sie allein mit ihm verbringen durfte, hielt sie schon seit drei Jahren aufrecht. Die Gedanken daran wurden in ihrem Herzen bewahrt durch die Liebe der Jungfrau Maria zu ihr, für den schönen Timon und den süßen Saul, der in seinem Bettchen am Fußende ihres Bettes schlief und der bald zweieinhalb sein würde.
Seinen Vater hatte er noch nicht kennengelernt.
Sie lächelte, als sie sich Timons Gesichtsausdruck vorstellte, wenn er sein Kind kennenlernte, seinen Sohn, seinen Jungen, sein Baby, das Gott und die Jungfrau Maria ihnen geschenkt hatte. Dieselbe Jungfrau Maria, die sie davor bewahrt hatte, die sündige Familie Cardelli in Como töten zu müssen. Gott hatte sie während ihrer Schwangerschaft mit Saul in ein dortiges Kloster gesandt, wo sie auf seinen Befehl wartete, das Ehepaar und seine vom Teufel gezeugten Zwillinge, einen Jungen und ein Mädchen, zu eliminieren.
Doch dann hatte die Jungfrau Maria eine Lawine auf das Auto der Cardellis niedergehen lassen, als sie einen Pass in den Dolomiten überquerten. Sie wurden von
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