Nur dein Leben
seinen Griff und drückte erst den rechten, dann den linken Abzug. Jedes Mal ertönte ein scharfes Klicken.
Er kniete sich hin und schob die Waffe unter das Bett, möglichst weit nach hinten, außer Sichtweite. Anschließend holte er eine Schachtel Munition aus dem Waffenschrank, riss sie auf und legte vier Patronen in seine Nachttischschublade. Er stellte die Schachtel wieder beiseite, verschloss den Waffenschrank und legte die Schlüssel wieder unter die Taschentücher.
Auf dem Bett sitzend überlegte er, was er sonst noch zu ihrem Schutz tun könnte, immer in der Hoffnung, er übertreibe und der Amerikaner sei harmlos gewesen. Höchstwahrscheinlich machten sie sich ganz umsonst Sorgen. Meine Güte, seine Schwiegermutter war nie in den USA gewesen, sie hatte Flugangst, vielleicht hatte sie sogar seinen Akzent falsch eingeordnet.
Er ging hinunter in die Küche, wo Naomi für alle ein spätes, improvisiertes Mittagessen zubereitete. Luke und Phoebe saßen am Küchentisch.
John lehnte sich wärmesuchend an den Ofen und fragte seine Schwiegermutter: »Anne, dieser Mann, der heute vor der Tür gestanden hat – bist du sicher, dass er Amerikaner war?«
»Hundertprozentig«, antwortete sie überzeugt.
John dachte einen Augenblick lang nach. »Du hast gesagt, er hätte ein Haus gesucht – hatte er sich vielleicht verfahren?«
»Ja«, sagte sie. »Man kann sich hier in der Gegend leicht verfahren, wenn man sich nicht auskennt. Ist mir beim ersten Besuch auch passiert. Ihr seid schlecht ausgeschildert.«
»Ich glaube nicht, dass er sich verfahren hatte«, fiel Phoebe schnippisch ein, ohne den Blick vom Fernseher abzuwenden.
Nach einem kurzen Schweigen fragte Naomi: »Hast du den Mann gesehen, Phoebe?«
»Man braucht Leute nicht zu sehen, um zu wissen, ob sie sich verfahren haben oder nicht!«, erwiderte Phoebe verächtlich.
»Woraus schließt du, dass er sich nicht verfahren hatte, Phoebe?«, fragte John.
Die Augen weiterhin auf den Fernseher geheftet, wedelte Phoebe die Frage mit der Hand beiseite. »Wir wollen die Sendung sehen, bitte stört uns nicht dauernd.«
John und Naomi wechselten einen Blick. John sah, wie seine Schwiegermutter Phoebes Frechheit belächelte.
Unverschämtheit!
Dafür hätte Phoebe eine Ohrfeige verdient, sowohl von ihm als auch von Naomi, aber noch empfanden sie es als einen großen Fortschritt, dass die Kinder überhaupt sprachen. Noch war es für sie nicht selbstverständlich.
»Du sagtest, er hat eine Farm gesucht?«, fragte John.
»Ja, so etwas hat er gesagt. Und – ach ja – Futter!«
»Futter?«
»Viehfutter – das hat er verkauft!« Sie runzelte die Stirn. »Obwohl ich sagen muss, dass er nicht wie ein Futterhändler aussah.«
Von seinem Büro aus rief John bei jeder der fünf Bauernfamilien im Umkreis an, die er bis jetzt kennengelernt hatte. Drei erreichte er und sie bestätigten ihm, dass sie keinen Besucher gehabt hatten, auf den die Beschreibung passte. Alle versprachen ihm, ihn anzurufen, falls der Amerikaner auftauchte. Unter den anderen Nummern meldete sich der Anrufbeantworter, und er hinterließ eine Nachricht.
Anschließend versuchte John, sich mit seinem Buch zu beschäftigen und die unverhoffte freie Zeit zu nutzen. Doch es war hoffnungslos, er konnte sich nicht konzentrieren, zu besorgt war er wegen des Amerikaners mit seinem Kruzifix.
Naomi rief ihn zum Mittagessen hinunter. Nach dem Essen zog er seinen Trenchcoat, einen Regenhut und Gummistiefel an und unternahm einen Rundgang über die Felder, rings um das Haus, immer nahe genug, um schneller als jedes Auto zu sein, das die Zufahrt entlangfuhr.
Ein Gedanke ging ihm unablässig im Kopf herum:
Was wäre geschehen, wenn sie beim Besuch des Amerikaners zu Hause gewesen wären?
Später am Nachmittag erhielt er eine Antwort auf die Mail an Kalle. Es war sein Abwesenheitsassistent, der besagte, dass Kalle in den kommenden zehn Tagen nicht im Büro erreichbar sein würde. Kurz darauf riefen die beiden anderen Bauern zurück. Keiner von ihnen hatte heute irgendwelche Besucher gehabt.
92
ABENDS UM HALB SECHS machte sich Johns Schwiegermutter auf den Heimweg nach Bath. Draußen war es bereits stockdunkel, und es schüttete noch immer. Wieder zog John den Trenchcoat und die Gummistiefel an und brachte sie unter einem großen Regenschirm hinaus zu ihrem Auto. Er gab ihr einen Abschiedskuss und sah ihr dann gemeinsam mit Naomi unter dem Vordach nach, bis ihre Heckscheinwerfer auf dem Weg zur Straße
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