Nur dein Leben
die winzige Taschenlampe, schaltete sie ein und beleuchtete mit der linken Hand das Schloss. Mit der rechten schob er den Wolfram-Tropfendiamanten in den Zylinder. Vorsichtig navigierte er die Einschnitte durch die Öffnung und suchte nach dem ersten Stift. Plötzlich ging es nicht mehr weiter. Er versuchte es noch einmal. Dann begriff er zu seinem Entsetzen, wo das Problem lag.
Jemand hatte von innen den Schlüssel stecken lassen.
In dem Moment, als ihm das klar wurde, hörte er direkt vor sich ein metallisches Klicken. Das kalte Klicken von nacheinander aufspringenden Stiften. Der dumpfe, bleierne, unverkennbare Klang eines Schlüssels, der im Schloss gedreht wurde.
Er ließ den Dietrich fallen und griff nach seiner Beretta. Doch sie steckte tief in seiner Tasche! Als er in wilder Panik an der Waffe zerrte, öffnete sich die Tür. Im Haus war es so dunkel, dass er die beiden kleinen Gestalten in Stiefeln und Wintermänteln kaum erkannte.
Die Teufelsbrut.
Sie stand direkt vor ihm.
Ihre Augen glänzten so neugierig, dass er im ersten Moment das Gefühl hatte, sie blickten durch ihn hindurch. Er wich ein paar Schritte zurück. Viel zu spät erkannte er, dass sie die Leute hinter ihm ansahen.
Den Schuss hörte er gar nicht mehr. Er fühlte nur einen sengenden, trockenen Windstoß, begleitet von einem unheimlichen
Wusch!,
das seine Trommelfelle zum Platzen brachte. Er fühlte auch die Kugel nicht, die durch die Schädelbasis eindrang und sein Rückenmark teilweise durchtrennte. Sie durchschlug erst seine linke Hirnhemisphäre, dann die rechte, dann den Stirnlappen, trat über dem rechten Auge aus und prallte von der Ziegelfassade des Eingangs ab, wobei sie ein kleines Loch in einer Zementfuge hinterließ.
Für einen Moment sah er Lara, die in einem hellen, milchig-weißen Lichtschein am Ende eines langen Tunnels stand. Dann schoben sich die Gesichter der Teufelsbrut vor sie und versperrten ihm die Sicht mit ihren höhnischen Fratzen.
Gewonnen!,
schienen sie ihn zu verspotten, mit einem grausamen, unbarmherzigen Grinsen in den Gesichtern, während ihre Augen glühten vor Hass. Dann bewegten sie sich auf ihn zu, oder vielleicht bewegte er sich auf sie zu. Verzweifelt rief er: »Lara!«
Ihr Name hallte in der hohlen Dunkelheit wider und verlor sich im Kichern der Teufelsbrut, ihrem glockenhellen, zerstörerischen, ohrenbetäubenden Kinderlachen. Das einzige Licht kam jetzt aus diesen vier Augen, vier Quellen von leuchtendem, farblosem Trockeneis. Sie wichen zurück. Weicher Kies fing ihn auf.
Zwei andere Gesichter tauchten über ihm auf, Silhouetten in der Dunkelheit, die ihm irgendwie bekannt vorkamen. Langsam erhellten seine zerstörten Nervenbahnen ihre Züge und tauchten sie in lebhaftes Nachtsichtgrün. Und dann strömte durch seine konfusen Gedanken und sein schwindendes Bewusstsein die Erinnerung herein, und seine Verwirrung wurde von einem kurzen Moment der Erkenntnis unterbrochen. Jetzt wusste er, warum sie ihm bekannt vorkamen.
In dem schicken Sportwagen auf dem Parkplatz hinter der Schule. Diese Profile durch das Nachtsichtgerät, als sie sich einander zuwandten und sich küssten. Der Mann und die Frau.
Sie waren es.
97
HALLEY SASS IN SEINEM KLEINEN, batteriebetriebenen Polizeijeep, die Baseballkappe verkehrt herum gedreht, ein breites Grinsen auf dem Gesicht. Runde um Runde drehte er auf dem Rasen in ihrem Garten. Er brummte um das Planschbecken herum, wich herumliegenden Spielzeugen aus, blinkte mit den Scheinwerfern und hupte. Es war sein dritter Geburtstag, es ging ihm gut heute, und er genoss den Tag.
Naomi musste ebenfalls grinsen, als sie ihn beobachtete. Freudig hielt sie Johns Hand unter der warmen kalifornischen Sonne. Es war ein perfekter Tag – solange man nicht wusste, dass der eigene Sohn nur noch weniger als ein Jahr zu leben hatte.
Der Traum verblasste. Naomi hielt die Augen geschlossen und versuchte, wieder an den Traum anzuknüpfen. Doch ein kalter Luftzug wehte über ihr Gesicht, und sie musste dringend auf die Toilette. Sie öffnete die Augen. Das Zimmer war stockdunkel, und der Wecker zeigte 06 : 01 Uhr an.
Draußen tobte noch immer der Sturm. Die Balken über ihr knarrten in allen Tonlagen, Fenster klapperten, es zog.
John schlief noch tief und fest. Naomi lag einige Momente lang wach und versuchte, den Drang zu pinkeln zu unterdrücken, zog sich die Decke über das Gesicht, um sich vor dem Zug zu schützen, schloss die Augen und bemühte sich, diesen warmen
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