Nur dein Leben
zartgelb gestrichenen Wänden zwei Landschaftsdrucke – eine Ansicht des Schlosses von Lewes und eine des Flusses Ouse –, es gab ein Sofa, einen Schreibtisch und einen Fernseher, den John eingeschaltet hatte. Eine Tür führte zu einem winzigen Badezimmer.
Draußen auf dem Flur hielten zwei bewaffnete Polizisten Wache. Ihre Anwesenheit hätte Naomi beruhigen müssen, aber das war nicht der Fall. Sie fühlte sich dadurch noch bedrohter. Sie empfand die Situation als völlig irreal.
Ihr Handy meldete sich mit einem Piepton. Sie hatte neue Nachrichten. Rosie. Ihre Mutter. Ihre Schwester. Naomi rief zu Hause an und hörte die Nachrichten auf dem Anrufbeantworter ab. Es waren insgesamt zwanzig; einige von Freunden und Nachbarn in Caibourne, mehrere von der Presse und einige berufliche für John, die sie sich auf der Rückseite eines Bons aus ihrer Handtasche notierte.
»So, schon besser, gleich wird es warm«, verkündete John.
Naomi las ihm die Nachrichten aus dem Institut vor.
»Alles nicht dringend. Ich kümmere mich morgen darum.«
Morgen,
dachte sie.
Morgen
war eine Million Jahre entfernt. Luke und Phoebe konnten heute noch am Leben, morgen aber schon tot sein.
Morgen
– ein Luxus, den es für sie nicht gab.
Jetzt, in dieser Minute,
so mussten sie leben. »Könntest du Reggie Chetwynde-Cunningham anrufen und ihn fragen, ob er schon weitergekommen ist?«
»Er hat versprochen, anzurufen, sobald es irgendetwas Neues gibt.«
»Vielleicht konnte er uns nicht erreichen.«
»Schatz, er hat unsere beiden Handynummern, okay?«
Einer ihrer Bewacher, ein jovialer Einsatzpolizist Ende dreißig, brachte ihnen ihr Abendessen auf einem Tablett: Lasagne, Salat und warmes Rhabarberkompott mit Streuseln und Vanillesoße. Der Mann erzählte, er habe selbst drei kleine Kinder und könne sich vorstellen, was sie durchmachten.
Naomi verzichtete höflich darauf, ihm zu erwidern, dass er keinerlei Ahnung davon habe, was sie durchmachten, nicht die geringste. Niemand könne sich das vorstellen. Man müsse einfach an das Allerschlimmste denken, was es für einen gäbe und das mit zehn Milliarden multiplizieren. Und selbst das traf es nicht annähernd.
Kurz darauf rief ein Arzt bei ihnen an, auf DI Pelhams Bitte hin, wie er sagte, und fragte, ob sie ein Beruhigungsmittel oder Schlaftabletten haben wollten. Naomi lehnte höflich ab und erklärte, sie wolle hellwach sein, falls es in der Nacht neue Entwicklungen gäbe.
Sie sahen sich jede Nachrichtensendung im Fernsehen an, in der vergeblichen Hoffnung, von irgendwelchen Fortschritten zu erfahren, die die Polizei ihnen bisher nicht mitgeteilt hatte. Ihr Fall war überall das Hauptthema. Der Mann, der im Krankenhaus ermordet worden war. Der Tod der mysteriösen Frau mit dem amerikanischen Pass. Spekulationen über Pädophilenringe, die Sekte der Apostel des Dritten Jahrtausends, der weltweite Adoptionshandel mit kleinen Kindern. Ausschnitte aus dem gestrigen Aufruf von John und Naomi im Fernsehen. Fotos von Luke und Phoebe. Ein wenig aussagekräftiger Kommentar von DI Pelham.
Zwischendurch rief Naomi ihre Mutter und ihre Schwester an, John bearbeitete einige E-Mails, und sie sahen sich
Wer wird Millionär
an.
John schaffte es, sich auf genau eine Frage zu konzentrieren, dann versank er wieder in seine Grübeleien. Diese furchtbaren Schuldgefühle. Was hatte er nur getan? Hätte er nicht mit dieser Journalistin geredet, Sally Kimberly, hätte es nie diese ganze Publicity gegeben. Niemand hätte von ihnen Notiz genommen. Egal, wer Luke und Phoebe entführt hatte und egal aus welchem Grund: Er fühlte sich in gewisser Weise dafür verantwortlich.
Wie sollte er mit Naomi darüber reden? Was sollte er dagegen tun? Wie damit umgehen?
Zum allerersten Mal in seinem Leben dachte er, dass der Tod eine willkommene Erleichterung wäre. Und dass er ihn verdient habe. Ihn hielt nur das Wissen aufrecht, dass er Naomi irgendwie eine Stütze sein und die Polizei weiterhin heftig unter Druck setzen musste.
Nach den Zehnuhrnachrichten fragte Naomi: »Meinst du, sie werden sie jemals finden?«
»Aber natürlich.«
»Lebendig?«
»Ja.«
Sie stand auf, trat ans Fenster und schaute hinaus. Alles, was man sehen konnte, war eine Backsteinwand jenseits eines umfriedeten Vorplatzes. »Sie sind zu klug, zu intelligent. Wer glaubt, sich zwei hübsche, wehrlose kleine Kinder geangelt zu haben, wird sich wundern. Wenn Luke und Phoebe herausfinden, dass diese Leute, denen sie so freudig gefolgt
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