Nur dein Leben
nicht um, sondern lief einfach immer weiter, nahm zwei, drei Stufen auf einmal.
Im Erdgeschoss rannte sie eine Familie mit kleinen Kindern über den Haufen, wich einer Frau aus, die einen mit Büchern beladenen Karren schob, stieß Türen mit der Aufschrift NUR NOTAUSGANG auf und hörte sofort eine Alarmanlage schrillen.
Während sie über die Straße stürmte, wühlte sie in der Tasche nach dem Autoschlüssel. Als sie den Wagen erreichte, blickte sie sich um und sah, dass der Polizist, der das Zimmer bewacht hatte, bereits ins Parkhaus rannte.
Sie schloss das Auto auf, stieg ein, schaffte es erst beim dritten Versuch, mit zitternden Fingern den Schlüssel in das Zündschloss zu schieben und den Motor anzulassen. Der Polizist stand jetzt genau vor dem Auto, die Arme erhoben, und rief ihr zu, sie solle stehen bleiben.
Sie trat fest auf das Gaspedal.
Der Polizist krachte auf die Motorhaube, prallte mit dem Gesicht gegen die Windschutzscheibe und verbog einen Scheibenwischer.
Lara schwenkte das Auto nach rechts und links, raste durch das Parkhaus und versuchte, den Mann abzuschütteln. Dann bog sie scharf nach rechts auf die stark befahrene Straße ab und sah, wie er nach links abrutschte und aus ihrem Blickfeld verschwand.
Ein Bus kam von rechts. Wenn sie sich beeilte, schaffte sie es gerade noch. Sie gab Vollgas, fuhr nach rechts auf die Straße, wendete dann scharf links ab, brachte den Wagen zum Schleudern und beschleunigte.
Genau auf einen Lkw zu.
Der Lkw fuhr auf der falschen Straßenseite.
Arschloch. Du Arschloch!
Sie sah den Schrecken auf dem Gesicht des Fahrers.
Dann fiel ihr ein: Nicht der Lkw fuhr auf der falschen Seite, sondern sie. Sie war in England. Linksverkehr!
Sekundenbruchteile später barst die Stoßstange des Lkws durch ihre Windschutzscheibe.
109
UM FÜNF UHR NACHMITTAGS kehrten sie im Dunkeln von den Morley Park Research Laboratories zurück. Renate Harrison fuhr, John und Naomi saßen schweigend im Wagen.
Das Telefon der Ermittlerin klingelte, und sie meldete sich. Ihrem respektvollen Tonfall nach sprach sie mit einem Vorgesetzten.
Naomi dachte, wie nett es von Reggie Chetwynde-Cunningham war, sein Wochenende zu opfern. Er hatte am Nachmittag seine gesamte Dechiffrier-Mannschaft zusammengetrommelt, um die Codes in den beiden Computern zu knacken, und ihnen versichert, sie würden notfalls die Nacht durcharbeiten.
Die Familienbegleiterin beendete ihren Anruf und steckte das Handy wieder auf die Station. »Das war DI Pelham. Es gibt Neuigkeiten.« Sie klang ernst. »Er möchte, dass ich Sie unverzüglich zu ihm bringe.«
Naomi wurde von einem Strudel der Angst erfasst. »Welche – welche Neuigkeiten?«
»Genaueres hat er mir leider nicht mitgeteilt.«
Naomi, die auf dem Rücksitz saß, konnte im Spiegel ihr Gesicht beobachten. Alle paar Minuten wurde es von den Scheinwerfern eines entgegenkommenden Fahrzeugs beleuchtet. Sie wusste, dass sie log.
War dies nun der Augenblick? Wurden sie nun mit den Nachrichten konfrontiert, die sie am meisten fürchteten? Dass ihre Kinder tot aufgefunden worden waren? Ermordet von Pädophilen, den Aposteln oder anderen Perversen, die sie entführt hatten?
John saß vorne auf dem Beifahrersitz. Naomi legte ihm die Hand auf die Schulter. »Meinst du, Reggie schafft es, die Codes zu knacken?«
John drehte den Kopf zu ihr um und legte seine Hand sanft auf ihre. »Er tut alles, was er kann, Liebes.«
»Ich weiß, aber wird er sie knacken?«
John schwieg und fragte sich, was er ihr antworten sollte. Er wusste, dass manche modernen Codes undechiffrierbar waren. »Wenn es einer schafft, dann er.«
Naomi erwiderte: »Willst du damit sagen, wenn er es nicht kann, dann niemand?«
Zur Antwort nahm John ihre Hand und verschränkte seine Finger mit ihren.
Sie dachte an das, was er früher so oft gesagt hatte.
Die Liebe ist mehr als eine Bindung zwischen zwei Menschen. Sie ist wie eine Wagenburg, die einen vor allem schützt, was das Leben einem entgegenschleudert.
Ihre Finger schlossen den Kreis. Sie und John. Sie waren diese Wagenburg. Obwohl. Sollte man nicht die ganze Familie innerhalb dieses Kreises schützen? War das nicht der Sinn und Zweck?
Der große, hölzerne Detective Sergeant, der sie gestern vernommen hatte, Tom Humboldt, befand sich ebenfalls in DI Pelhams Büro, als sie um kurz nach sechs eintrafen. Humboldt war genauso smart gekleidet wie tags zuvor, in einen kamelfarbenen Anzug und eine wild gemusterte Krawatte. Er
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