Nur dein Leben
SAGTE JOHN.
Naomi, die tief in Gedanken versunken auf einer Bank des Promenadendecks saß und wie jeden Tag auf ihrem iPhone Tagebuch schrieb, antwortete nicht.
»Mitgefühl«, wiederholte John, als dächte er laut. »
Mitgefühl.
Wie definiert man das? Kann man es überhaupt definieren?«
Während der morgendlichen Sitzung mit Dr. Dettore hatten sie mehr als eine Stunde lang über die Gene für Mitgefühl diskutiert und jetzt, während ihrer freien Zeit bis zur Nachmittagssitzung, ließ das Thema John und Naomi noch immer keine Ruhe.
Das Schiff hatte inzwischen Kurs in Richtung Süden genommen und das Wetter war besser geworden. Naomi genoss die Wärme und die ruhige See. Um sieben Uhr abends würden sie in Kuba anlegen, aber Dettore hatte ihnen davon abgeraten, an Land zu gehen. Es war ein reiner Tank- und Proviantaufnahmestopp. Für Naomi sei es von größter Wichtigkeit, im kommenden Monat streng auf ihre Gesundheit zu achten, und sie wollten doch nicht riskieren, sich in einem Taxi, einem Geschäft oder einer Bar irgendwelches Ungeziefer zu holen?
John erhob sich. »Komm, Schatz, vertreten wir uns ein bisschen die Beine. Die Krankenschwester hat gesagt, Bewegung würde deine Schmerzen lindern.«
»Ich probiere es mal.« Naomi ließ das Handy in die Handtasche gleiten und stand ebenfalls auf. »Was könnte Dettore wohl damit gemeint haben, als er sagte, unser Kind würde schneller heranwachsen als normale Altersgenossen?«
»Meiner Meinung nach hat er auf seine überdurchschnittliche Intelligenz angespielt.«
»Hier geht es nicht darum, was wir meinen John. Wir müssen in jeder Hinsicht sicher sein. Dettore hat von beschleunigtem Wachstum und Frühreife gesprochen. Aber wir möchten doch nicht, dass er sich zu sehr von anderen Kindern unterscheidet, er braucht doch Freunde!«
»Bevor wir eine endgültige Entscheidung treffen, gehen wir das alles noch einmal durch.«
»Ich studiere die Unterlagen jetzt schon bis aufs i-Tüpfelchen.«
Sie spazierten über das Teakholzdeck, die Brise im Gesicht, vorbei an einem Sammelpunkt und einem orangefarbenen Rettungsring mit dem Namen des Schiffes. Naomi hinkte. Die Spritze von heute Morgen verursachte ihr starke Schmerzen. Sie war niedergeschlagen und überempfindlich. Als sie Johns Hand nahm und seinen starken, beruhigenden Griff spürte, fühlte sie sich ein wenig besser. Sie drückte seine Hand, und er erwiderte die Geste.
Als sie eine Reihe von Bullaugen passierten, blickte sie in jedes hinein und versuchte, hindurchzuschauen. Aber das Glas war verspiegelt wie bei allen Bullaugen des Schiffes, und sie sah nur ihre eigene Reflexion, ihr blasses Gesicht, ihr vom Wind zerzaustes Haar.
»Diese Geheimniskrämerei geht mir allmählich auf die Nerven«, bemerkte sie.
»Ich nehme an, dass auch in einer Klinik an Land größter Wert auf Privatsphäre gelegt würde. Vielleicht fällt es uns hier auf dem Schiff nur stärker auf.«
»Kann schon sein. Ich fände es einfach interessant, auch mal ein anderes Paar kennenzulernen und uns mit ihnen auszutauschen.«
»Aber was wir tun, ist etwas sehr Persönliches. Vielleicht möchten andere Leute einfach nicht darüber reden – ja, vielleicht fiele es uns auch schwer, wenn wir jemandem begegnen würden.«
Bisher hatten sie auf dem Schiff außer Dettore nur einen Arzt namens Tom Leu kennengelernt, einen freundlichen, gut aussehenden, chinesischstämmigen Amerikaner, den Dettore als seinen Hauptassistenten bezeichnete, dazu die Krankenschwester Yvonne, ihr Zimmermädchen und einige Mitglieder der philippinischen Besatzung.
Keine Spur vom Kapitän oder irgendeinem der anderen Offiziere, abgesehen von einer Stimme aus dem Lautsprecher heute Morgen um neun, die eine Sicherheitsübung für die Mannschaft ankündigte. Alle Türen und Tore zur Brücke, den Maschinenräumen und Mannschaftsquartieren waren stets verschlossen, und bis auf den flüchtigen Blick auf das Paar, das sie scherzhaft George und Angelina getauft hatten, hatte es keine Anzeichen für andere Klienten gegeben.
Bei ihrem Spaziergang gestern am späten Nachmittag hatten sie den Helikopter landen und kurz darauf wieder starten sehen. Als er für einen Moment über dem Schiff schwebte, hatte John durch die getönte Glasscheibe einen Blick auf das Gesicht einer Frau erhascht. Sie nahmen an, dass ein Paar abgeholt worden war, das seine Meinung geändert hatte.
»Möchtest du etwas zu Mittag essen?«, fragte Naomi.
John schüttelte den Kopf. Er hatte keinen
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