Nur dein Leben
Hunger, das lag an dem Druck, ständig Entscheidungen treffen zu müssen. Die richtigen Entscheidungen.
»Ich auch nicht. Komm, setzen wir uns ein bisschen in die Sonne, warm genug ist es ja«, antwortete Naomi. »Vielleicht schwimmen wir ein paar Bahnen? Und reden noch einmal über das Thema Mitgefühl?«
»Einverstanden.«
Einige Minuten später kehrten sie, eingepackt in die flauschigen weißen Schiffsbademäntel und eingecremt mit Sonnenmilch, zum Heck zurück. Als Naomi den Handlauf ergriff und die Stufen zum Pool hinuntersteigen wollte, blieb sie plötzlich stehen und drehte sich zu John um.
George und Angelina räkelten sich auf Liegestühlen am ansonsten verlassenen Pool. Gebräunt und attraktiv, in heißer Badekleidung und mit coolen Sonnenbrillen. Beide waren in ihre Bücher vertieft.
Naomi hörte ein Klicken. Ihr Blick huschte wieder zu John, der verstohlen etwas in die Bademanteltasche gleiten ließ.
»Hast du sie etwa fotografiert?«
Er zwinkerte ihr zu.
»Das ist verboten, du kennst doch die Regeln! Man könnte uns rauswerfen, wenn irgendjemand …«
»Ich habe aus der Hüfte heraus geschossen. Niemand hat etwas gesehen.«
»Bitte mach das nicht noch mal!«
Sie gingen zu einer Liegestuhlgruppe in der Nähe der anderen. »Hi!«, rief John freundlich. »Guten Tag!«
Im ersten Moment reagierte keiner der beiden. Dann senkte der Mann, den sie George getauft hatten, ganz langsam sein Taschenbuch um ein paar Zentimeter und nickte ihnen ebenso langsam zu, andeutungsweise und vollkommen unpersönlich. Er verzog keine Miene und wandte sich sofort wieder seinem Buch zu, ohne sie weiter eines Blickes zu würdigen. Die Frau hatte überhaupt nicht reagiert.
Naomi sah John achselzuckend an. Er öffnete den Mund, als wolle er eine Bemerkung machen, überlegte es sich aber anders. Er streifte den Bademantel ab, trat an den Rand des Schwimmbeckens und tauchte einen Fuß hinein.
Naomi gesellte sich zu ihm. »Freundlich, was?«, tuschelte sie.
»Vielleicht sind sie taub.«
Naomi kicherte. John stieg ins Becken und schwamm los.
»Wie ist das Wasser?«, fragte sie.
»Saunatemperatur.«
Naomi steckte dennoch zuerst den Fuß hinein, in dem Wissen, dass John an die eiskalten Seen Schwedens gewöhnt war. »Warmes Wasser« bedeutete für ihn, dass kein Eis darin herumschwamm.
Als sie zehn Minuten später herauskletterten, waren George und Angelina verschwunden.
Naomi machte es sich auf ihrem Liegestuhl bequem, strich ihr Haar zurück, wrang es aus und ließ sich von der Sonne und dem warmen Wind trocknen. Dann bemerkte sie: »Was für ein unmögliches Benehmen!«
John, der sich die Haare trocken rubbelte, erwiderte: »Vielleicht sollte Dettore ihrem Kind ein Höflichkeitsgen einpflanzen.« Dann setzte er sich zu Naomi und fügte hinzu: »So, und jetzt sollten wir uns noch einmal über Mitgefühl den Kopf zerbrechen, denn bis drei Uhr müssen wir zu einer Einigung gekommen sein. Wir haben also noch anderthalb Stunden Zeit.«
Am Morgen hatte Dettore sie mit Vorschlägen für Veränderungen an der Gruppe von Genen konfrontiert, die für Mitgefühl und Sensibilität verantwortlich waren. John betrachtete Mitgefühl wie eine mathematische Gleichung: Es galt, die Balance zwischen Mitgefühl als entscheidendem Faktor für Menschlichkeit und jenem Übermaß zu finden, das lebensgefährlich werden konnte. Er erklärte Dettore, dass er es für gefährlich halte, auf diesem Gebiet einzugreifen, doch der Genetiker hatte ihm energisch widersprochen.
Nach sorgfältigem Nachdenken begann Naomi: »Wenn du ein Soldat wärst, der sich mit einem Kameraden durch den Dschungel kämpft, von Feinden verfolgt, und plötzlich würde dein Kamerad so schwer verwundet, dass er nicht weitergehen könnte, was würdest du tun?«
»Ich würde ihn tragen.«
»Gut. Aber du könntest ihn nicht sehr weit tragen, und was würdest du dann tun? Wenn du ihn liegen ließest, würde der Feind ihn gefangen nehmen und töten. Bliebest du bei ihm, würdet ihr beide getötet.«
Plötzlich sehnte sich John nach einer Zigarette. Er hatte damals aufgehört, als Naomi mit Halley schwanger war und aufhören musste, dann aber kurz nach Halleys Tod wieder angefangen. Seit achtzehn Monaten rauchte er jetzt nicht mehr, aber wenn er unter Stress stand, kehrte das Verlangen zurück.
Er erwiderte: »Die darwinistische Lösung wäre vermutlich, meinen Freund zurückzulassen und allein weiterzufliehen.«
»Aber ist es denn nicht Sinn der Sache, ja, der
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