Nur dein Leben
sie erreicht hatten, traten zwei kleine Gestalten hervor.
Luke und Phoebe.
Weitere kleine Gestalten drängten sich hinter ihnen zusammen.
127
LUKE SPRACH MIT SCHNEIDENDER STIMME: »Eltern, ihr habt etwas Furchtbares getan. Ihr habt eure archaischen Methoden an diesen Ort gebracht. Ihr habt uns Schande bereitet. Kaum seid ihr ein paar Stunden hier, habt ihr diesen Ort schon beschmutzt. Niemand auf dieser Insel ist je gewalttätig gewesen. Die Neuen Menschen hier wussten nicht einmal, was Gewalt ist. Jetzt habt ihr es ihnen gezeigt. Seid ihr stolz darauf?«
»Wir …«, begann John, doch er wusste nicht, was er sagen sollte, und seine Stimme verlor sich.
Naomi zitterte, im Schockzustand nach ihrer Tat. »Wo sind wir?«, fragte sie mit zittriger Stimme. »Was ist das für ein Ort? Was geht hier vor?«
»Ihr wäret nicht imstande, das zu verstehen, selbst wenn wir es euch erklären würden.«
»Ihr habt uns auf die Welt gebracht«, sagte Luke. »Könnt ihr mir sagen, warum ihr das getan habt?«
»Ja, welche Pläne hattet ihr genau?«, fügte Phoebe hinzu.
»Wir wollten ein gesundes Kind haben, eines, das nicht die Krankheitsgene in sich trug, die deine Mutter und ich beide vererben – das war unser Plan, sonst nichts«, antwortete John, dem dieses Gespräch vollkommen bizarr erschien.
»Schön, hier sind wir, euer Plan ist aufgegangen. Wir sind gesund«, sagte Luke. »Möchtet ihr unsere medizinischen Befunde einsehen? Wir sind tatsächlich ziemlich vorbildlich. Wir sind wesentlich gesünder als die Welt, in die ihr uns hineingeboren habt.«
Phoebe sagte: »Überall herrscht Angst vor der Gentechnik. Es heißt, die Natur sei zwar nicht vollkommen, aber immer noch besser als alle Alternativen. Wie bitte? In was für einer Welt lebt ihr? Die Natur hat
Homo sapiens
beherrscht, seitdem diese Art vor etwa fünfhunderttausend Jahren zum ersten Mal auftauchte. Ein totaler Reinfall! Wäre die Natur eine politische Führerin, müsste man sie wegen Völkermords exekutieren! Als Generaldirektorin eines multinationalen Konzerns wäre sie wegen Inkompetenz gefeuert worden. Warum sollte man nicht mal die Wissenschaft ans Ruder lassen? Kann die Wissenschaft, in den richtigen Händen, überhaupt ein größeres Chaos anrichten?«
»Was soll das heißen,
in den richtigen Händen
?«, erwiderte John.
»In denen des Mannes, den ihr soeben versucht habt zu töten«, antwortete Luke mit starrem Blick auf Naomi. »Dr. Dettore. Der größte Visionär, den die Welt je gesehen hat. Der Mann, den ihr gerade ermorden wolltet.«
»Ihr müsst jetzt gehen, Eltern«, verkündete Phoebe finster. »Wir bringen euch zu eurem Flugzeug. Ihr müsst wissen, dass alle Ereignisse auf dieser Insel aufgezeichnet werden. Wenn ihr jetzt geht, werden wir das Band löschen, auf denen dein Mordversuch aufgezeichnet ist, Mutter. Das hast du zwar nicht verdient, aber ihr seid schließlich unsere Eltern …«
»Wir wollen euch nicht töten«, fiel Luke ein. »Damit würden wir uns nur auf euer Niveau begeben. Wir wollen, dass ihr verschwindet. Vergesst, dass ihr jemals hier gewesen seid. Vergesst uns und alles, was ihr gesehen habt.«
»Ich kann euch beide niemals vergessen«, entgegnete Naomi.
»Warum nicht?«, fragte Luke.
Naomi blinzelte die Tränen aus den Augen. »Weil ihr unsere Kinder seid und es immer bleiben werdet. Unser Haus wird auch immer eures sein. Vielleicht kommt ihr uns einmal besuchen, wenn ihr älter seid.« Ihr versagte die Stimme. »Vielleicht könnt ihr uns dann etwas beibringen.«
John nickte und fügte hinzu: »Unsere Tür steht euch immer offen. Ich möchte, dass ihr wisst, dass ihr bei uns immer ein Zuhause haben werdet, falls ihr es einmal wollt oder braucht. Immer.«
»Wir haben euch sehr gut verstanden«, sagte Phoebe.
128
Naomis Tagebuch
Eines Tages hätte ich beinahe einen Menschen getötet.
Ich drücke es so aus, weil es mir dann weniger realistisch erscheint. Das ist das Gute am menschlichen Gehirn: Es verändert ständig die Vergangenheit, schneidet hier ein wenig weg, fügt dort etwas hinzu, präsentiert sie in immer annehmbarer Form – eher so, wie wir sie uns gewünscht hätten, als so, wie sie tatsächlich war.
Sören Kierkegaard hat einmal geschrieben, das Leben müsse nach vorne gelebt werden, könne aber nur von hinten verstanden werden. Unablässig spule ich das Band in meinem Gehirn zurück und lasse es erneut ablaufen. Ich erlebe Halleys Tod noch einmal. Johns und meine Entscheidung, in die
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