Nur dein Leben
John noch Naomi sprachen ein Wort.
»Genau wie Hitler und Stalin war die Inquisition nicht wählerisch – sie tötete die Intelligenzija ebenso wie das Proletariat. Dennoch konnte die Inquisition lange Zeit ungestraft ihr Unwesen treiben, denn das alles geschah ja im Namen Gottes. Die Religion gab ihr Brief und Siegel und legitimierte sie.« Dettore hielt inne und sah John und Naomi einige Augenblicke lang eindringlich an. »Und Sie fragen sich, warum wir uns hier verborgen halten? Nun, aus einem einfachen Grund. Früher oder später hätte ein Haufen religiöser Fanatiker, deren Vorstellungen sich seit dem Mittelalter nicht geändert haben, mich gejagt und getötet. Wenn es nicht die Apostel des Dritten Jahrtausends gewesen wären, dann eben eine andere Gruppe.«
»Erstaunt Sie das?«, fragte John. »Sie lassen Kinder für sich arbeiten, sie pfuschen mit menschlichem Erbgut herum, und da wundern Sie sich, dass Sie Feinde haben?«
Dettore zeigte hinauf zum Himmel. »Dort oben kreisen Satelliten, John und Naomi, die jeden Quadratzentimeter der Erde fotografieren, zu jeder Stunde des Tages. Amerikanische, russische, chinesische und auch die anderer Nationen. Sie suchen nach allem, was von der Norm abweicht, neuen Strukturen, Menschen an Orten, die zuvor unbewohnt waren. Alles wird registriert, analysiert, hinterfragt.«
»Haben Sie deswegen Ihr gesamtes Transportsystem unter die Erde verlegt?«, fragte John.
»Natürlich. Wir sind hier unsichtbar und wollen es auch bleiben, bis es nicht länger notwendig ist.«
»Und wann wird das sein?«, fragte Naomi.
»Wenn die Welt dazu bereit ist.«
»Wozu?«, hakte sie nach.
»Für die Art von Wissen und Humanität, die wir hier entwickeln. Keines der Kinder hier wird zu einem Menschen heranwachsen, der eine Nagelbombe in einem vollen Londoner Pub explodieren lässt. Oder Semtex in einem Auto auf einem Markt voller Frauen und Kinder deponiert. Wollen Sie etwa dieses Chaos namens
Zivilisation
bis in alle Ewigkeit fortführen? Die Menschheit ist von einer despotischen Herrschaft zur nächsten gestolpert. Nero, Attila der Hunne, Napoleon, Stalin, Hitler, Hirohito, Mao Tse Dong, Pol Pot, Saddam Hussein, Milosevič, Bin Laden, Mugabe. Wo soll das enden? In einer großen Party mit Luftballons und Feuerwerk, bei der sich alle die Hände schütteln und sagen:
Hey, Leute, wir haben ein paar Tausend lausige Jahre hinter uns, lasst uns alle Freunde sein, damit unsere Kinder eine bessere Zukunft genießen?
Daran glaube ich nicht.«
»Wer finanziert das hier eigentlich alles?«, fragte John unbeeindruckt.
Ohne seine Schritte zu verlangsamen, antwortete Dettore: »Leute, die sich Sorgen machen. Philanthropen auf der ganzen Welt, die nicht wollen, dass die Zivilisation religiösen Fanatikern und Despoten zum Opfer fällt und wir ins Mittelalter zurückfallen. Die eine auf Rationalität und Humanität basierte Zukunft für die Menschheit sichern wollen.«
»Eines möchte ich wissen«, sagte Naomi. »Warum haben Sie uns hintergangen und mir Zwillinge implantiert, obwohl wir nur einen Jungen wollten?«
Dettore blieb stehen und sah sie an. »Weil Sie es niemals verstanden hätten. So einfach ist das.«
»Weil wir was nicht verstanden hätten?«, fragte John.
Dettore sah beide abwechselnd an. »Ihr Kind wäre einsam gewesen ohne ein Geschwister, mit dem es seinen überlegenen Intellekt hätte teilen können. Der Junge hätte sich unter den anderen Kindern wie ein Freak gefühlt. Doch zu zweit konnten sie eine Bindung zueinander aufbauen und sich und ihre Umwelt in der richtigen Perspektive betrachten.«
»Meinen Sie nicht, diese Entscheidung hätten Sie uns überlassen sollen?«, fragte Naomi.
»Ich hatte nicht das Gefühl, dass Sie die Bedeutung dieser Entscheidung verstanden hätten«, erwiderte Dettore.
John kochte vor Wut. »Wie können Sie nur so überheblich sein!«
Dettore zuckte mit den Schultern. »Die Wahrheit ist oft schwer zu akzeptieren.«
»Ich traue meinen Ohren nicht! Wir – Sie, Naomi und ich – haben eine Liste von genetischen Modifikationen für unser Kind vereinbart. Wie viel mehr haben Sie verändert, ohne uns etwas davon zu sagen?«
»Wichtige Dinge, die Sie meiner Meinung nach übersehen hatten.«
»Und mit welchem Recht, verdammt nochmal?«, fragte Naomi mit erhobener Stimme.
»Lassen Sie uns zurück in mein Büro gehen«, schlug Dettore vor. »Ihnen ist heiß, und Sie fühlen sich unwohl. Sie brauchen eine Dusche und frische Kleidung, etwas zu
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