Nur dein Leben
Telefon wieder auf die Station. Seine Sekretärin brachte einen Stapel Post herein, und er bat sie, ihm noch einen Becher Wasser zu holen. Dann fischte er Sally Kimberlys Karte aus seinem Portemonnaie und rief ihre Festnetznummer an.
Es klingelte nicht einmal. Stattdessen ertönte ihre Stimme vom Band: »Hallo, dies ist der Anrufbeantworter von Sally Kimberly. Ich bin zurzeit nicht persönlich zu erreichen, aber bitte hinterlassen Sie mir eine Nachricht, oder rufen Sie mich auf dem Handy an.«
John hinterließ eine Nachricht mit der Bitte, ihn baldmöglichst zurückzurufen und wählte dann ihre Handynummer, doch auch diesmal sprang sofort die Mailbox an. Er hinterließ eine zweite Nachricht.
Als er auflegte, wusste er plötzlich, was ihn gestern Abend gestört hatte – das Gefühl, dass etwas im Raum fehlte: Es war das Foto von Naomi, das normalerweise auf seinem Schreibtisch stand. Eines seiner Lieblingsfotos von ihr, das vor ein paar Jahren auf einer ihrer Reisen in die Türkei entstanden war. Sie war braun, ihre Haare vom Salz und der Sonne fast blond, und sie stand am Bug einer älteren Gulet, die Sonnenbrille ins Haar geschoben, die Arme zu einer Kate-Winslet-Parodie aus dem Film
Titanic
ausgebreitet.
Er stand auf und sah sich um. Der Fotograf musste das Bild gestern Abend weggenommen und woanders hingestellt haben, er hatte so einiges umarrangiert. Aber wo zum Teufel hatte er es deponiert?
Die Sekretärin trat ein. Er fragte sie nach dem Foto, aber sie versicherte ihm, es nicht angerührt zu haben. John setzte sich wieder, trank einen Schluck Wasser und dachte an Dr. Rosengarten.
Falls der Geburtshelfer recht hatte und es ein Mädchen war, musste er wissen, wie hoch das Risiko für Dettore gewesen war, sich beim Geschlecht des Kindes zu irren. War diese Manipulation schwieriger als die an anderen Genen, die er verändert hatte – oder leichter? Bestand nur dieser eine Irrtum oder war das Baby völlig verkorkst?
John rief sein Adressregister auf und erhielt Namen und Telefonnummer von Dr. Maria Annand, Fertilitätsmedizinerin am Cedars-Sinai. Vor sechs Monaten war er mit Naomi bei ihr gewesen, um Tests durchführen zu lassen. Dr. Dettore hatte darauf bestanden, bevor er sie akzeptierte. Er verlangte die Bestätigung, dass Naomi noch schwanger werden konnte, bevor sie das viele Geld für eine Konsultation bei ihm ausgaben.
John wählte die Nummer. Er erwischte sie gerade noch, bevor sie zu einem Termin aufbrach.
»Dr. Annand, ich würde Sie gern ganz kurz etwas fragen. Wenn ich das Geschlecht meines Kindes auswählen möchte, wie groß ist die Chance, dass das gelingt?«
»Sie meinen, wenn Sie sich einen Jungen oder ein Mädchen wünschen?«
»Genau.«
»So etwas wird regelmäßig bei Paaren durchgeführt, bei denen geschlechtsspezifische Erbkrankheiten auftreten können, und zwar normalerweise durch Prä-Implantationsgenetik. Wenn sich der Embryo im Achtzellstadium befindet, nimmt man eine Zelle dieser Blastozyste und gibt ihr das entsprechende Geschlecht. Das geht ganz leicht.«
»Welche Misserfolgsquote gibt es?«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
»Sagen wir, ein Paar wünscht sich einen Jungen, nutzt die Prä-Implantationsgenetik, um sicherzugehen, und entdeckt später, dass es keinen Jungen, sondern ein Mädchen erwartet. Wie wahrscheinlich ist das?«
Äußerst entschieden antwortete sie: »Höchst unwahrscheinlich. Ein Irrtum bei der Geschlechtsfestlegung des Embryos ist sehr gering – die Technik ist äußerst simpel.«
»Aber gewiss kommt es doch trotzdem einmal vor?«
»Na ja, natürlich kann es passieren, dass im Labor die Embryonen verwechselt werden. Das ist erst vor kurzem geschehen. In einer Reproduktionsklinik wurden die Embryonen eines schwarzen und eines weißen Paares vertauscht. Den Frauen wurde der falsche Embryo eingepflanzt, so dass das weiße Paar ein schwarzes Baby bekam. So etwas kann passieren.«
»Den falschen Embryo?«, echote John.
»Ja, genau.«
»Und das ist Ihrer Meinung nach der einzige Weg, auf dem so etwas passieren kann?«
»Bitte entschuldigen Sie mich«, bat Dr. Annand. »Ich muss mich beeilen, ich bin wirklich spät dran.«
»Natürlich. Ich danke Ihnen für die Zeit, die Sie sich für mich genommen haben.«
»Rufen Sie mich gerne noch einmal an, wenn Sie weitere Fragen haben«, schlug sie vor.
»Danke, vielleicht tue ich das. Nur noch ein letztes Mal zur Sicherheit: Der falsche Embryo – ist das der einzige Weg? Der falsche
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