Nur dein Leben
es recht gewesen, das Geschlecht gar nicht vorher zu wissen, wie viele andere Eltern auch, Hauptsache, ich wäre sicher gewesen, dass dem Baby nichts fehlt. Ich will keine Abtreibung, kommt gar nicht in Frage. Man treibt doch kein Kind ab, nur weil man sich einen Jungen gewünscht hat und stattdessen ein Mädchen erwartet.«
Ein unbehagliches Schweigen trat ein. Das Problem lag auf einer ganz anderen Ebene, das wussten beide.
»Schiffe haben manchmal Kommunikationsprobleme«, gab John zu bedenken. »Sie verlassen sich auf Satelliten und finden nicht immer eine Verbindung. Ich versuche heute Morgen noch einmal, ihn zu erreichen.«
Draußen ertönten erneut eine Sirene und die Basshorntöne eines Löschzugs.
»Ich will nicht, dass du abtreibst«, sagte er. »Es sei denn, es ist …«
Sie wartete einen Augenblick und hakte dann nach. »Es sei denn, es ist was?«
»Heutzutage kann man alle möglichen Tests an Ungeborenen durchführen.«
Sie schaltete die Nachttischlampe ein und setzte sich wütend auf. »Hier geht es nicht um ein Wegwerfprodukt, John, ein Experiment in der Petrischale oder in einer Glasglocke, eine Fruchtfliege oder was weiß ich.« Sie zog die Daunendecke hoch und verschränkte die Arme schützend über ihrem Bauch. »Das ist mein Kind – unser Kind. Ich werde es lieben, egal ob Mädchen oder Junge, egal, wie es sich entwickelt. Ich werde es lieben, ob es einen Meter zwanzig oder zwei Meter groß wird, egal ob hochintelligent oder zurückgeblieben.«
»Aber Schatz, das wollte ich doch gar nicht …«
Sie unterbrach ihn. »Es war ursprünglich deine Idee, und du hast mich dazu überredet. Ich mache dir keine Vorwürfe, denn ich habe zugestimmt und bin genauso verantwortlich für die Entscheidung wie du. Damit will ich nur sagen, dass ich die Sache durchziehen werde. Dettore mag beim Geschlecht einen Fehler gemacht haben, oder was auch immer geschehen ist: Vielleicht ist das ein Trick der Natur, die Welt vor dem Irrsinn zu bewahren. Wenn nämlich die Mütter anfangen, ihre Babys beim ersten Anzeichen dafür abzutreiben, dass sie sich nicht entwickeln wie gewünscht, führt dieser Weg in den Abgrund.«
Auch John setzte sich auf. »Wenn du von Halleys Krankheit noch vor seiner Geburt gewusst hättest – hättest du ihn zur Welt gebracht, in dem Wissen, was ihm bevorstand?«
Naomi sagte nichts. Er drehte sich zu ihr und sah, wie ihr eine Träne über die Wange lief. Er tupfte sie mit seinem Handtuch ab. Ihr Gesicht war schmerzlich verzerrt.
»Es tut mir leid. Das hätte ich nicht sagen sollen.«
Keine Reaktion.
Er hievte sich wieder aus dem Bett, zog seinen Frotteebademantel über, tappte aus dem Schlafzimmer hinaus und den schmalen Flur entlang und fühlte sich noch schlechter als ein paar Minuten zuvor. Er betrat sein Büro, schlängelte sich vorsichtig um Kartons voller Papier, Schachteln mit CDS , Kabel, Kameraobjektive und Stapel ungelesener Zeitschriften, schaltete die Schreibtischlampe ein und setzte sich. Sein Laptop steckte noch immer in der Tasche, an der Stelle, an der er ihn am Abend zuvor abgelegt hatte. Er nahm ihn heraus, klappte ihn auf und loggte sich bei der Universität ein. Dann checkte er seine E-Mails.
Fünfzehn neue Nachrichten, darunter eine vorwurfsvolle von seinem Schachgegner, Gus Santiano in Brisbane. Der hat Nerven, dachte John. Santiano brauchte regelmäßig eine Woche für einen Zug, aber wenn John mal länger als ein paar Tage auf sich warten ließ, drängte ihn der Australier. Du musst warten, dachte John und sah benebelt eine E-Mail-Anschrift nach der anderen auftauchen. Plötzlich war er hellwach.
Dr. Leo Dettore – re:
Abwesenheitsnotiz
Dr. Dettore hält sich zurzeit auf einer Konferenz in Italien auf und kehrt am 29 . Juli zurück. Bis dahin kann Ihre Mail nicht bearbeitet werden.
Der neunundzwanzigste Juli war morgen. Beziehungsweise heute.
Er eilte zurück ins Schlafzimmer. »Schatz, Leo Dettore war auf einer Konferenz. Ich habe eine E-Mail bekommen. Morgen ist er wieder da!«
Doch anstatt zu reagieren, blieb sie reglos liegen, und Tränen liefen ihr übers Gesicht. Nach langem Schweigen fragte sie schließlich sehr leise: »Ist Sally Kimberly eigentlich gut im Bett?«
21
JOHN KAM UM KURZ NACH NEUN INS BÜRO, zitternd vor Kälte, einen Mahlstrom düsterer Gedanken im Kopf. Er setzte sich mit einer Tasse schwarzem Kaffee und einem Glas Wasser an den Schreibtisch, drückte zwei weitere Paracetamol-Kapseln aus der Blisterverpackung und
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