Nur dein Leben
schluckte sie.
Regen prasselte ans Fenster. Draußen stürmte es. Seine Jacke war durchweicht, seine Chinos klebten ihm klitschnass an den Beinen, und seine Slipper waren vollkommen durchnässt, nachdem er in eine tiefe Pfütze getreten war.
Um elf Uhr musste er vor dreißig Studierenden eine Vorlesung darüber halten, auf welchen Gebieten der medizinische Fortschritt die menschliche Evolution negativ beeinflusste. Durch die umfassenden wissenschaftlichen und medizinischen Entwicklungen in den letzten Jahrtausenden, angefangen bei primitiven Zahnbehandlungen und optischen Linsen bis hin zu Organtransplantationen und modernen Waffen gegen tödliche Krankheiten wie Diabetes, überlebten nicht mehr länger nur die fittesten beziehungsweise am besten angepassten Menschen.
Einst wäre die Linie der Zahnlosen erloschen, weil sie nicht essen konnten, und die Kurzsichtigen wären leichter wilden Tieren oder Feinden zum Opfer gefallen und ebenfalls ausgestorben, aber dies geschah nicht mehr. Menschen mit solchen oder ähnlichen Defekten überlebten, pflanzten sich fort und vererbten ihre Mängel. Auch Personen mit Organschäden oder chronischen Krankheiten überlebten und bekamen Kinder. Jedes Jahr kamen mehr anstatt weniger unvollkommene Menschen zur Welt. Die Wissenschaft war bereits dabei, insgeheim und zwangsläufig die darwinistischen Prinzipien der natürlichen Auslese zu untergraben.
John hatte mit seinen Studierenden Computermodelle der Evolution mit und ohne den Einfluss medizinischer Segnungen durchgeführt. Ohne den medizinischen Fortschritt hätte sich die Menschheit zu einer wesentlich robusteren Spezies entwickelt, als sie heute war. Er erklärte dem Auditorium, dass sie in ihrem nächsten Experiment einen neuen Faktor in die Gleichung einfließen lassen würden: genetische Manipulation. Dies sei die einzige Möglichkeit, die allmähliche Degeneration unserer Spezies durch die Medizin zu verhindern. Die Computermodelle hatten es bewiesen: Wenn im Laufe der nächsten hunderttausend Jahre – also in nur dreihundert Generationen – keine genetischen Verbesserungen erfolgten, käme es zu einer gefährlichen Schwächung der Menschen in den Industrienationen.
John hatte sich auf diese Veranstaltung gefreut, doch die Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden hatten ihm jeglichen Enthusiasmus geraubt. Er sehnte sich verzweifelt danach, alles wieder in Ordnung zu bringen.
Naomis Unterstellung hatte ihn tief verletzt. Er vergrub das Gesicht in den Händen. Sie war aufgeregt und würde sich wieder beruhigen. Er hatte doch nichts getan, außer mit der Reporterin zu reden, in der Beziehung hatte er ein reines Gewissen. Aber was hatte er ihr bloß erzählt?
Ihre Behauptung, eine Freundin von Naomi zu sein, war eine Lüge gewesen. Warum hatte sie gelogen? Um ihn zum Reden zu bringen?
Streng vertraulich. Ihre Unterhaltung war streng vertraulich gewesen. Oder?
Er rief bei Dr. Rosengarten an und loggte sich in seine E-Mails ein, während das Freizeichen ertönte. Die Sekretärin des Geburtshelfers meldete sich. Dr. Rosengarten sei den ganzen Vormittag im Kreißsaal. Sie notierte sich Johns Nummer und versprach, der Doktor werde zurückrufen, sobald es seine Zeit erlaubte.
John sah die Liste der neuen E-Mails in seinem Postfach durch. Er hatte in den letzten Wochen vorsichtig die Fühler nach anderen Universitäten und Instituten ausgestreckt, aber an diesem Vormittag hatte er keine Reaktionen erhalten. Wenn es mit der Festanstellung nicht klappte, würde er in einem Jahr arbeitslos sein. Nachdem seine gesamten Ersparnisse für das Baby gebraucht worden waren, überkam ihn Panik bei dem Gedanken. Für sein Buch würde er noch ein weiteres Jahr brauchen, und die Einkünfte daraus würden niemals zum Leben reichen. Er musste sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass er höchstwahrscheinlich die Wissenschaft verlassen und einen Forschungs- und Entwicklungsjob bei einer Computerfirma an einem Ort wie Silicon Valley annehmen musste. Keine besonders verlockende Zukunftsperspektive.
Zwanzig nach neun, Los-Angeles-Zeit. An der Ostküste war es zwanzig nach zwölf. Dettore konnte inzwischen zurück sein. Er wählte seine Nummer.
Viermal Freizeichen, dann wieder die Mailbox: »Dies ist der Anschluss der Dettore Klinik. Bitte hinterlassen Sie Ihren Namen, Ihre Telefonnummer – mit Landesvorwahl – und eine Nachricht, dann wird man Sie in Kürze zurückrufen.«
John hinterließ eine neue Nachricht und legte das
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