Nur dein Leben
Lebens gemacht.
Dr. Otterman untersuchte sie zunächst äußerlich, und zur Überraschung ihrer Mutter protestierte Phoebe nicht einmal, als der Arzt ihr eine Blutprobe abnahm. Dann folgte eine ganz kurze innerliche Untersuchung, und anschließend tupfte er das Blut zwischen ihren Beinen vorsichtig mit einem Papiertuch ab.
»Barbie!«, sagte der Arzt zu Phoebe, als sei das ein Geheimcode zwischen ihnen.
»Barbie!«, kam das Echo von Phoebe.
Der Kinderarzt streifte die Handschuhe ab, wusch sich die Hände, half Naomi beim Anziehen der Kleinen und setzte sich an seinen Schreibtisch.
Er machte sich mehrere Notizen mit einem Füller, legte diesen hin und runzelte die Stirn. Nach einigen Augenblicken nahm er ihn wieder zur Hand und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
»Dr. und Mrs. Klaesson«, begann er, »diese Blutung gestern Abend beim Baden – ist das Wasser sehr heiß gewesen?«
»Nein, nicht heißer als sonst.«
»Ich schicke das Blut zur Analyse. Es kann ein paar Tage dauern, bis die Ergebnisse da sind.«
»Was könnte sie denn Ihrer Meinung nach haben?«, fragte Naomi. »Ist sie sehr krank? Ich meine – innere Blutungen – glauben Sie …«
Der Arzt wirkte plötzlich nervös. »Ich glaube, wir sollten die Laborergebnisse abwarten, bevor wir irgendwelche Schlüsse ziehen.«
»W-welche Schlüsse?«, fragte Naomi alarmiert.
Dr. Otterman stand auf. »Ich möchte Sie wirklich nicht unnötig beunruhigen. Ich rufe Sie an, sobald die Resultate da sind.«
»Aber was könnte es denn sein?«, bohrte John. »Was meinen Sie?«
»Interne Blutungen können doch nichts Gutes verheißen, oder?«, fragte Naomi.
»Die können vielerlei Gründe haben«, beschwichtigte sie Otterman. »Wir sollten zunächst einmal abwarten.«
»Die andere Sache ist die mit der Sprache, in der sich Phoebe und Luke unterhalten«, fuhr John fort. »Wie denken Sie darüber?«
Der Kinderarzt hob die Hände. »Ich bin zutiefst erstaunt.« Er blickte hinunter auf seine Notizen. »Sie waren vor ein paar Monaten mit den beiden bei Roland Talbot, dem Psychiater, richtig?«
»Ja.«
»Er hält die Zwillinge für hochbegabt. Ich rate Ihnen, sich darüber nicht zu viele Gedanken zu machen, obwohl das Muster auf dem Fußboden wirklich eine eindrucksvolle mathematische Meisterleistung ist, ich muss schon sagen. Unser Wissen über die Funktion des menschlichen Gehirns steckt noch in den Kinderschuhen, und es wurden bisher schon eine ganze Reihe erstaunlicher Kommunikationsformen zwischen Zwillingen nachgewiesen. Wobei eine Sonderbegabung für Mathematik manchmal ein Indiz für Autismus ist …«
Naomi unterbrach ihn. »Autismus? Glauben Sie, die beiden sind autistisch?«
»Die Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie sich irgendwo in diesem Spektrum bewegen, obwohl ich persönlich das nicht glaube. Aber wir müssen diese Möglichkeit in Betracht ziehen.« Einen Moment lang schwieg er, dann fuhr er fort. »Irgendwo haben sie sich in ein neuronales Netz eingehakt, das diese Meisterleistung vollbringen kann. Was sie tun, erscheint uns unglaublich, für sie hingegen ist es völlig normal. Irgendwann zwischen einem bestimmten pränatalen Zustand und einem Alter von etwa sieben Jahren vernetzt sich unser Gehirn. Es könnte sich bei ihnen nur um eine Phase handeln, so dass sie vielleicht in etwa einem Jahr diese Fähigkeit verlieren. Sollte dies nicht der Fall sein, gibt es eine gute Verhaltenspsychologin in Brighton, die ich Ihnen dann empfehlen würde – doch ich vermute, das wird nicht nötig sein.«
»Das hoffe ich inständig«, stimmte Naomi zu. »Aber mir kommt es einfach ein bisschen zu seltsam vor.«
Der Kinderarzt brachte sie zur Tür. »Ich rufe Sie an, sobald ich etwas weiß. Bis dahin sollten Sie sich keine Sorgen machen.«
Zwei Tage später meldete sich Dr. Otterman. Sein Tonfall ängstigte Naomi. Er schlug vor, dass sie und John sobald wie möglich zu ihm in die Praxis kommen sollten, und zwar am besten allein.
60
DIE PRAXIS SCHIEN SICH seit ihrem letzten Besuch vor drei Tagen verändert zu haben. Am Montagmorgen war ihnen der Raum mit seinen gelb gestrichenen Wänden und dem großen Fenster luftig und hell erschienen. Jetzt wirkte er dunkel und bedrückend. Naomi und John saßen vor dem Schreibtisch des Kinderarztes. Dr. Otterman beredete draußen vor dem Sprechzimmer etwas mit seiner Sekretärin. Fensterscheiben klapperten im Wind. Naomi beobachtete, wie Regen die Straße peitschte. Ein Sturm zur herbstlichen
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