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Nur Der Mann Im Mond Schaut Zu:

Titel: Nur Der Mann Im Mond Schaut Zu: Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carin Gerhardsen
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gut. Tschüß, Hanna.«
    Das Gespräch war vorbei, aber Hanna freute sich wie ein Schneekönig. Jetzt hatte sie noch jemanden, auf den sie hoffen konnte, und sie war so aufgeräumt, dass sie an diesem Abend länger aufblieb. Erst als die Stimmen und die Musik, die den ganzen Tag aus dem Fernseher geströmt waren, sich in ein wütendes Rauschen verwandelten, zog sie sich ins Schlafzimmer zurück, kauerte sich in dem großen Doppelbett zusammen und schlief ein.
    *
    Sie hatte nie geglaubt, dass man sich so fühlen konnte. Obwohl sie in der Schule immer Schwierigkeiten hatte, sich zu konzentrieren, hatte sie jetzt nichts anderes mehr im Kopf als dieses eine Ereignis. Diese Sekunden, in denen sie etwas vollkommen Idiotisches angestellt hatte. Wie hatte sie nur so bescheuert sein können? Nichts konnte so viel wert sein, dass man eine solche Angst dafür ertrug. Und das alles nur für ein paar armselige Hunderter.
    Sie hatte fast gar nicht mehr geschlafen, seit es passiert war. Sie sah diese leeren, wässrigen Augen vor sich. Den Blick, der über sie wanderte, aber niemals ihrem Blick begegnete. Dieser Blick, der sie betrachtete, ohne sie zu sehen. Die Hand, die sich auf und ab bewegte, auf und ab, die seltsamen Laute, die ausgestoßen wurden, sich wiederholten, immer und immer wieder. Die Finger, die über ihren Körper wanderten, die sich zwischen ihre Schenkel suchten, während sie mit gespreizten Beinen und hochgezogenem Rock und dem Höschen in der Jackentasche dasaß. Immer und immer wieder musste sie ihn ermahnen, ihn wegschieben. Immer und immer wieder kam er zurück.
    Am Ende, nach einer Ewigkeit, dieser langgezogene, erstickte Schrei, der in sich gekehrte Blick, die Brieftasche, die dalag und darum bettelte, geklaut zu werden, der Ekel und eine plötzliche Eingebung. Die Stimme, die in ihrem Kopf noch lange nachhallte, die Worte, die immer noch in der Luft hingen: »Du verdammte kleine Hure! Was zum Teufel machst du da! Ich werde …« Und dann der Blitzstart, kreischende Reifen und knallende Autotüren. Aber sie war schon weit weg, lief, so schnell sie konnte. Bevor sie in eine andere Straße abbog, drehte sie sich um und sah ihn ein letztes Mal – plötzlich war er aus dem Auto raus, wollte ihr stattdessen nachlaufen. Dann war sie außer Hörweite, sah ihn nicht mehr. Sie war so verdammt unglaublich schnell gelaufen, und er hatte sie nicht mehr einholen können.
    Trotzdem war er die ganze Zeit da. Sie hatte eine solche Angst, dass sie sich kaum vor die Tür wagte. Wenn sie ihm zufällig über den Weg laufen würde, was würde sie dann machen? Wenn sie rausging, nahm sie den Hinterausgang zum Tjurberget hinüber. Auf die Götgatan wagte sie keinen Fuß zu setzen. Sie machte lange Umwege, um die Gegend um diesen verdammten Zeitungskiosk zu vermeiden.
    Die Brieftasche lag in einer Schublade mit Kleidern unter ihrem Bett und brannte ihr auf der Seele. Sie hatte noch nicht einmal gewagt, sie zu öffnen; hatte es nicht gewagt, das Geld zu nehmen, das sie so gerne haben wollte, dass sie zum ersten Mal ein Verbrechen begangen hatte. Sie hatte keine Ahnung, was sie mit ihr anfangen sollte. Sie konnte sie nicht loswerden, denn er könnte ja zu ihr kommen und die Brieftasche zurückfordern. Sie konnte sich auch nicht vorstellen, sie zu behalten. Es war so schon schlimm genug, ohne dass sie ihr Zimmer mit der Ursache ihres Unglücks teilen musste.
    Und mit Jennifer, dachte sie manchmal. Mit Jennifers Unglück. Dieses Brieftaschenelend hatte ihre Gedanken dermaßen in Beschlag genommen, dass sie weder die Zeit noch die Kraft hatte, richtig um Jennifer zu trauern. Jennifer war weg, sie war tot. Ermordet. Aber sie selbst war mit anderen Dingen beschäftigt. Sie hatte Gewissensbisse wegen Jennifer. Alle anderen trauerten um sie. Elise vermisste sie, so war es nicht. Aber es war auch schön, in Frieden gelassen zu werden. Das Zimmer und seine Gedanken für sich selbst zu haben. Jennifer hätte sie aufgezogen, hätte sie ausgelacht, wenn sie erfahren hätte, was sie für einen Mist gebaut hatte. Wenn sie noch leben würde.
    Wer würde Elise vermissen, wenn sie starb? Absolut niemand. Mama würde die andere Last auch noch loswerden und könnte wie gewohnt mit ihren widerlichen Kumpanen weiterfeiern. Nina und ihre anderen Freundinnen? Sie würden vielleicht eine kleine Krokodilsträne verdrücken, aber dann wäre sie vergessen. Das Leben geht weiter. Wenn man auf der Welt keinen Platz für sich in Anspruch genommen hatte, dann

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