Nur der Tod sühnt deine Schuld
etwas.
Haley setzte sich kerzengerade hin. Warum war bisher niemand darauf gekommen? Molly konnte schriftlich kommunizieren. Am Abend zuvor hatte sie jedenfalls keinen Moment gezögert, das Wort NEIN aufzuschreiben.
Aber wie gut konnte sie schreiben? Wenn Detective Tolliver ihr Fragen stellte, konnte sie sie vielleicht beantworten, ohne ein Wort zu sagen. Drittklässler waren doch sicher in der Lage, einfache Sätze zu schreiben.
»Was meinen Sie?«, fragte Haley Dr.Tredwell eine halbe Stunde später in seinem Büro. »Könnte Detective Tolliver Molly befragen und sie bitten, ihre Antworten aufzuschreiben?«
»Möglich wäre es wahrscheinlich. Wenn sie sich sträubt, sollte man sie aber auf keinen Fall drängen.«
»Glauben Sie mir, auch wenn ich unbedingt will, dass die Polizei Monicas Mörder findet, wäre ich niemals bereit, Molly dafür zu opfern.«
Er nickte und beugte sich ein wenig vor. »Wie geht es sonst mit ihr?«
»Heute ganz gut. Gestern Abend war es etwas heikel.« Sie erzählte ihm von Mollys stummem Wutanfall. »Sie spricht zwar nicht, hat es aber mühelos geschafft, mir unmissverständlich klarzumachen, dass sie nicht leicht zufriedenzustellen ist.«
»Ich rate Ihnen dringend, solche Vorfälle nicht allzu persönlich zu nehmen. Molly ist nicht nur verletzt und tieftraurig, sondern auch wütend, und Sie sind die perfekte Zielscheibe für ihre Wut.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Sie haben also vor, sie Anfang nächster Woche wieder zur Schule zu schicken?«
»Ich gehe heute zum Elternabend und rede mit der Lehrerin. Vielleicht kann Molly dann Montag schon wieder am Unterricht teilnehmen.«
»Gut, dann sehen wir uns am Montag um fünf.«
Der Rest des Nachmittags verlief ruhig. Molly hockte vor dem Fernseher, während Haley am Küchentisch saß und versuchte, sich durch die plötzliche Wendung in ihrem Leben nicht unterkriegen zu lassen.
Sie hatte ihre Nichte gerade vierundzwanzig Stunden in Obhut, und schon hatte sie ihr zweimal kein ordentliches Essen gemacht, außerdem hatte sie verschlafen und Molly zweimal vor dem Fernseher geparkt. So konnte das nicht weitergehen.
Haley hatte zwei Nachrichten für Detective Tolliver hinterlassen. Sie brannte darauf, ihm mitzuteilen, dass Molly vielleicht aufschreiben könnte, was sie gesehen oder gehört hatte. Bis jetzt hatte er noch nicht zurückgerufen.
Zum Abendessen gab es Chicken-Pot-Pie, eine englische Hühnerpastete, und um halb sieben brachte Haley Molly zu den Marcellis rüber. Ein pummeliges junges Mädchen mit welligem rotem Haar und einem Gesicht voller Pickel öffnete die Tür. »Hi, Sie müssen Haley sein.« Sie lächelte freundlich und bat die beiden herein.
»Und Sie müssen Belinda sein«, erwiderte Haley.
Bevor sie noch irgendetwas sagen konnten, kamen zwei dunkelhaarige Mädchen angelaufen. Ihre Augen leuchteten, und sie kicherten die ganze Zeit. Belinda stellte sie als Adrianna und Mary vor. Die beiden Mädchen nahmen Molly an die Hand und verschwanden mit ihr durch den Flur nach hinten.
»Machen Sie sich keine Sorgen, es wird schon gutgehen«, sagte Belinda. »Angela hat mir alles erklärt, also, dass Molly nicht spricht und so. Ich habe den Mädchen gesagt, dass Molly ein stilles Spiel spielt und heute vielleicht nichts sagt.«
Haley nickte und konnte sich nicht verkneifen, den Blick neugierig durch das Wohnzimmer der Marcellis schweifen zu lassen. Der Raum schien direkt einem Einrichtungsmagazin entsprungen zu sein.
Haley hatte schon vermutet, dass Angela der Typ Stepford-Frau war, und dieses hübsche, makellos saubere Wohnzimmer bestätigte ihren Eindruck voll und ganz. Es verschlug Haley förmlich die Sprache, als sie sah, dass die DVD s alphabetisch geordnet waren.
Monica war schon fast zwanghaft gewesen, aber Angela schien alles zu übertreffen, was Haley bisher gesehen hatte. »Ordnung ist das halbe Leben«, hatte ihre Mutter immer gesagt, als sie klein waren, erinnerte sich Haley.
Während sie zur Schule fuhr, überlegte sie, ob man automatisch zwanghaft ordentlich wurde, wenn man Mutter wurde. Vielleicht war das eine Begleiterscheinung der Schwangerschaft, über die nie jemand sprach. Sie nahm sich vor, Grey am Montag danach zu fragen.
Haley hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie sich auf das Mittagessen mit dem gutaussehenden Psychologen freute, obwohl der Schmerz über den Tod ihrer Schwester noch so frisch war wie am ersten Tag.
Aber sie war auch erwachsen genug, um zu wissen, dass das Leben
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