Nur ein Augenblick des Gluecks Roman
Justin.
»Wenn du mich als Freund fragst«, sagte Ari, »lautet die Antwort: unglaublich angespannt.Wenn du mich als deinen
Psychiater fragst … dann lautet die Antwort: entspannt. Du hast eine Menge Spinnweben weggeblasen. Sicher, dabei sind ein paar verstörende Dinge ans Licht gekommen … allerdings auch ein paar tröstliche.«
Justin antwortete mit einem sardonischen Lachen. »Tröstlich? Du machst wohl Witze.«
»Du hast herausgefunden, dass, obwohl ein Grabstein das Gegenteil behauptet, du nicht seit 30 Jahren tot bist. Und du hast herausgefunden, dass du nicht verrückt bist. Angesichts der Alternativen nenne ich das tröstlich.«
»Schon klar. Trotzdem fühle ich mich im Moment meilenweit entfernt von jedem Trost.« Justin war nicht in der Stimmung, sich besänftigen zu lassen.
»Ich möchte, dass du ganz klar siehst, wo wir hier stehen«, sagte Ari. »Folgendes ist passiert: Du bist in einem sehr frühen Alter mit einer ganzen Serie von überwältigend negativenVorfällen konfrontiert worden. Und du brauchtest einen Weg, um diese Dinge zu verarbeiten.«
Justin war ungeduldig; er hatte es eilig, zum Grund für seinen Besuch zu kommen. Er schnitt Ari das Wort ab. »Ich kenne die Sprüche«, sagte er. »Du hast es mir erklärt. Und ich hab’s kapiert. Dissoziative Identitätsstörung, was bedeutet, dass ich an einem bestimmten Punkt T. J. von Justin abgetrennt und sie in zwei verschiedene Ecken meines Kopfes gepackt habe.« Diese Feststellung demütigte ihn; sie ließ ihn in seinen eigenen Augen bedauernswert und kaputt erscheinen.
Er begann, im Zimmer auf und ab zu laufen. »Mir ist egal, wie oft du mir erzählst, dass ich mich auf diese Weise selbst geschützt habe.Tatsächlich habe ich mich auf einem derart monumentalen Niveau selbst belogen, dass ich in der Lage war, was genau abzuschotten? Zehn, zwölf Jahre meiner
Kindheit? Ich habe ausradiert, dass ich adoptiert wurde und in Pflegefamilien gelebt habe und stattdessen alles mit einem imaginären Leben in der Lima Street übermalt. Nenn’ es von mir aus eine Überlebensstrategie.Aber tief in mir drin fühle ich mich wie ein beschissener Geistesgestörter.«
Ari antwortete in ruhigem, professionellem Ton. »Du warst gerade mal ein Kleinkind, als du in deine psychologische Hölle geworfen wurdest. Als du fünf wurdest, warst du bereits von zwei Müttern getrennt worden. Und anschließend bist du in eine bemerkenswert schlimme Pflegesituation geraten. Das ist eine ganze Kette von extremen seelischen Misshandlungen. Und,ja, an dem Punkt, als du Middletown verlassen hast und aufs College gegangen bist, hast du aus irgendeinem Grund - um überhaupt zurechtzukommen - T. J. von Justin abgespalten. Du hast deine Kindheit und Jugend im absoluten Chaos verbracht.Aber du hast einen Weg gefunden, zu überleben. Du solltest stolz auf das sein, was du aus der Situation gemacht hast.«
Justins Stimme hatte einen bitteren Unterton. »Herauszufinden, dass ich den größten Teil meines Lebens ein ›seelisch Behinderter‹ war, löst eine Menge Gefühle in mir aus. Stolz ist nicht unbedingt eines davon.«
»Schade eigentlich«, erwiderte Ari. »Denn die Wahrheit ist, dass mit einem Start wie deinem - keine Chance auf eine einzige sichere emotionale Bindung in der frühen Kindheit, keine Chance, irgendwelches Vertrauen zu denjenigen zu entwickeln, die für dich sorgen sollten - die meisten Menschen nicht halb so gesund aus der Sache herausgekommen wären wie du.«
»Mich mit zweiunddreißig für jemanden zu halten, der ich nicht war«, beharrte Justin. »Ist das deineVorstellung von Gesundheit?«
»Tatsächlich warst du doch diese Person, nur dass es nicht die komplette Geschichte war«, erklärte Ari. »Aber darum geht es nicht.Was ich dir zu erklären versuche, ist, dass man angesichts deiner Geschichte eigentlich damit rechnen müsste, dass du ernsthaft dysfunktional wärest. Bestenfalls ein Aussteiger oder ein Verbrecher.«
»Stattdessen hab ich mich als verlogener Spinner entpuppt.« Justin durchbohrte Ari mit einem ärgerlichen Blick.
»Hör zu, es ist ziemlich verbreitet, dass Kinder, die unter keinerlei psychologischem Stress stehen, sich an Dinge zu erinnern meinen, an die sie sich unmöglich erinnern können. Dinge, die möglicherweise schon vor ihrer Geburt passiert sind. Aber sie glauben sich zu erinnern, weil sie die Geschichten millionenfach von ihren Eltern und Großeltern gehört haben. Der einzige Unterschied besteht darin, dass du dir die
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