Nur ein Blick von dir
presste ihr Gesicht ins Kissen.
»Hör auf zu heulen«, sagte Marina. »Ich hasse das. Mach dich fertig. Ich bringe dich zum Bahnhof. Dann kannst du zurückfahren. Ich bleibe noch.«
Silke blieb noch einen Moment liegen, dann löste sie sich von dem nassen Kissen. Ihre Augen brannten, aber liefen nicht mehr über. »Du musst mich nicht zum Bahnhof bringen«, erwiderte sie mit lebloser Stimme. »Ich gehe allein. Ich will dich nicht länger belästigen.«
30.
N achdem Silke mit dem Zug nach Köln und dann mit der S-Bahn nach Hause gefahren war, saß sie nur da, in ihrer leeren Wohnung, und starrte vor sich hin. Yvonne hatte sie gewarnt, und das nicht nur einmal. Aber Silke hatte nicht auf sie hören wollen. Das hatte sie nun davon.
Sie fühlte sich so leer, als hätte ein Feuer in ihr gewütet und alles, was zuvor dagewesen war, bis auf den letzten Rest weggebrannt. Es war nicht einmal mehr Asche übrig. Eine Atomexplosion gigantischen Ausmaßes, die alles vernichtete, war über sie hinweggefegt. Auf diesem Boden würde nie wieder etwas wachsen. Schon gar keine Liebe.
Sie starrte blicklos in die Luft. Wie sehr hatte sie sich nach diesem Gefühl gesehnt, ihr ganzes Leben lang. Dann dachte sie, sie hätte es gefunden, und nun . . . war alles noch viel schlimmer als vorher. Es war alles vorbei, aber sie hatte die Erinnerung, die Sehnsucht. Obwohl sie sich so leer fühlte, konnte sie diese Gedanken nicht aus ihrem Kopf streichen. Erinnerungen waren manchmal sehr anhänglich, selbst wenn sie lästig waren und qualvoll.
Marina hatte sie bis in die tiefsten Tiefen ihrer Seele verletzt. Sie hatte nicht nur die Oberfläche angekratzt, nicht nur blaue Flecken auf der Haut hinterlassen, sondern blaue Flecken auf der Seele. Mehr als blaue Flecken. Schwärende, schmerzhaft quälende Wunden, die sich in ihr Innerstes hineinfraßen.
Es tat so weh, und trotzdem hatte sie das Gefühl, sie könnte nichts spüren. Es war ein allumfassender Schmerz, der gleichzeitig jede Empfindung tötete. Sie war nur noch ein Zombie.
Am Morgen stand sie wie ein Roboter auf, duschte, machte sich für die Arbeit fertig und verließ das Haus. Sie wünschte sich fast, Marinas Gangsterfreund, denn das war er wohl, würde wieder auftauchen, um sie von ihrem Leid zu erlösen. Es wäre das Einfachste gewesen. Weiterzuleben war die weit schwierigere Aufgabe. Sie hatte keine Angst mehr vor ihm. Sie hätte ihn freundlich begrüßt.
Da Yvonne noch immer im Krankenhaus lag, kümmerte sich niemand auf der Arbeit um Silkes Zustand. Ihr Chef wiederholte lediglich sein stereotypes »Sie werden mir doch wohl nicht krank werden, Frau Sander?« Und Silke brachte es tatsächlich fertig zu lächeln und ihm zu versichern, dass es nicht so war.
Sie hatte mittlerweile so viel Übung darin, Kunden abzufertigen, ohne sie richtig wahrzunehmen, dass es gar nicht auffiel. Das Lächeln, das keins war, war auf ihrem Gesicht festgefroren, es veränderte sich nicht.
Wie einfach doch alles ist, wenn man nichts spürt, dachte sie. Warum habe ich das nicht schon früher ausprobiert? Sie betrachtete die Außenwelt wie einen Film, der an ihr vorbeizog, nichts mit ihr zu tun hatte. Nichts und niemand konnte sie stören, sie verletzen. Die Qual in ihrem Inneren war da, aber wie hieß es doch so schön? Man gewöhnt sich an den Schmerz.
Erst, als Yvonne anrief, wurde sie ein wenig aus ihrer Friedhofsruhe gerissen. »Na, wie war dein Wochenende?«, fragte Yvonne neugierig.
»Schön«, antwortete Silke ohne jede Betonung.
Yvonne stutzte. »Das ist alles? Einfach nur: schön?«
»Ich will nicht ins Detail gehen«, sagte Silke. »Es kommen Kunden.« Sie legte auf.
Damit ließ Yvonne sich aber natürlich nicht abspeisen. Sie versuchte mehrere Male Silke anzurufen, und als Silke nicht abnahm, schickte Yvonne Klaus zu ihr.
Im Gegensatz zu Yvonne, die sich bestimmt schon ihr Teil dachte, war Klaus völlig ahnungslos. »Yvonne ist furchtbar neugierig«, teilte er Silke schmunzelnd mit. »Spann sie doch nicht so auf die Folter. Sie sagt, sie versauert im Krankenhaus, sie braucht solche Informationen.«
»Es gibt keine Informationen«, sagte Silke. »Ich hatte ein schönes Wochenende, danke der Nachfrage.«
»Sag ihr das doch selbst«, bat Klaus. »Sie macht mich ganz verrückt mit ihren Anrufen. Und wenn ich nachher ins Krankenhaus gehe, wird sie mich ausfragen. Komm doch einfach mit.«
Silke schüttelte langsam den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Heute nicht.«
Jetzt merkte selbst
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