Nur ein Gerücht
damals - ich glaubte, kein einziges gemeines Wort mehr ertragen zu können. Ich hatte keinen Mut, diese Tür aufzustoßen. Glaubst du wirklich, ich hätte sie stoppen können? Ich? Die Dicke mit dem schwulen Vater?«
Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. »Natürlich hättest du sie nicht stoppen können, aber du hättest mir beistehen können. Dann wäre ich nicht so entsetzlich allein gewesen.«
»Ich weiß«, sagte ich unglücklich. Ihr verstörter und zutiefst verletzter Blick hatte mich bis in meine Träume verfolgt. »Ich wünschte, du könntest mir verzeihen.«
Ganz kurz flackerte so etwas wie Irritation in ihrem Blick auf, als käme etwas ins Stocken, was vorher noch im Fluss gewesen war. Aber während ich es noch zu ergründen versuchte, war es schon verschwunden.
»Würdest du meine Entschuldigung annehmen?«, fragte ich.
»Das wäre dann bereits das zweite Mal.«
Ich verstand nicht, worauf sie anspielte, und hakte nach. »Vor knapp zwei Wochen bist du weinend durch die Halle von Flint's Hotel gelaufen, hast mich fast über den Haufen gerannt und eine Entschuldigung gemurmelt.«
»Du warst das?«, fragte ich. Ich hatte noch ihre merkwürdige Antwort in den Ohren. Wenn alles so leicht zu entschuldigen wäre ... Und ich erinnerte mich an das Gefühl, ihre Stimme schon einmal gehört zu haben. »Hast du mich damals erkannt?«
»Ja.«
»Warum hast du nichts gesagt? Wir hätten doch ...«
»Ein glückliches Wiedersehen feiern können?« Ihr bissiger Ton tat mir weh, aber ich hatte ihn verdient.
»Ich kann verstehen, dass du mich nicht wiedersehen wolltest. Umso dankbarer bin ich dir, dass du heute gekommen bist.«
»Ich war neugierig«, sagte sie mit einer Gelassenheit, um die ich sie beneidete. »Immerhin schwärmt Christian in den höchsten Tönen von dir.«
Mein Herzschlag beschleunigte sich. »Wir sind nur gute Freunde«, beeilte ich mich zu sagen, während ich innerlich gegen einen unerklärlichen Schmerz ankämpfte.
»Bedauerst du das?«
»Nein. Seid ihr ...? Ich meine, habt ihr ...?«
Jetzt lachte sie. »Wir sind erwachsene Menschen.«
Was auch immer das bedeutete. Ich wollte lieber nicht darüber nachdenken. »Vielleicht fällt es einem erwachsenen Menschen leichter, eine Jugendsünde zu verzeihen.«
»Tu das nicht!«, entgegnete Nadine scharf. »Benutze nicht dieses Wort! Jugendsünde - das lässt alles, was geschehen ist, in einem vermeintlich harmlosen Licht erscheinen. Als wären Jugendliche nicht verantwortlich für das, was sie tun.«
»Das meinte ich nicht! Ich wünsche mir nur, dass du meine Entschuldigung annimmst.«
»Damit wir dann beide zufrieden und glücklich in den Sonnenuntergang reiten können?«
»Bis dir das gelingt, musst du noch einige Reitstunden bei Basti nehmen«, sagte ich mit einem schiefen Lächeln. »Aber im Ernst: Was spricht dagegen?«
»Die ausgleichende Gerechtigkeit.«
Ich nahm mir Zeit, um über ihre Worte nachzudenken. »Ich bin mir nicht mehr sicher, ob sie wirklich hält, was sie verspricht. Lange Zeit habe ich mir ausgemalt, wie es sein würde, die glorreichen Fünf für das büßen zu lassen, was sie mir angetan haben. In Gedanken habe ich mit meinem Baseballschläger so lange auf sie eingeschlagen, bis das Blut spritzte. Ich habe mich für jedes Wort gerächt, das ich mir anhören musste, für jedes Foto, das sie herumgereicht haben. In meiner Phantasie war es ein sehr befriedigendes Gefühl. Und ich stellte mir vor, wie dieses Gefühl erst sein würde, wenn aus Phantasie Realität würde.«
»Diese Vorstellung ist mir nicht fremd ... «
»Vielleicht hast du gehört, dass Udo gestorben ist ...«
Sie nickte.
»Als ich an seinem Sarg stand, ist mir klar geworden, dass diese ausgleichende Gerechtigkeit ein Phantom ist. Dass das Warten darauf die Gedanken vergiftet, dass sie nichts ungeschehen machen kann. In meiner Phantasie habe ich so etwas wie Genugtuung gespürt - an seinem Sarg war nichts davon übrig.
Aber auch der Hass ist nicht wieder hochgekommen. Insofern hat mein Baseballschläger ganze Arbeit geleistet.«
»In deiner Phantasie«, sagte sie kopfschüttelnd.
Es störte mich nicht, dass sie mich belächelte. »Es hat funktioniert. Ohne meine Phantasie hätten mich die Erinnerungen zerfressen.«
»Warum sitzt du dann hier und wartest auf meine Absolution? Hat deine Phantasie versagt, als es darum ging, dich bei mir zu entschuldigen?«
Einen Moment lang sah ich sie verständnislos an. »Dich habe ich nicht gehasst,
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