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wurden erwachsen, Gerda heiratete und bekam Kinder“, fährt sie fort.
„ Hast du denn nie geheiratet? Und keine Kinder bekommen?“, platze ich heraus. Hannelore zuckt zusammen und ich würde am liebsten meine Frage zurücknehmen, da sie ihr sichtbar Schmerzen bereitet.
Außerdem bemerke ich gerade, dass ich eine Menge sehr indiskreter Fragen stelle, was mir gar nicht zusteht. Würde ich einer nahezu Fremden mein ganzen Leben erzählen, meine ganze Vergangenheit vor ihr ausbreiten? Eher nicht. Ich will mich schon für meine Neugier und meinen fehlenden Anstand entschuldigen, da antwortet Hanne.
„ Doch, ich habe geheiratet. Aber mein Mann kam nur wenige Monate nach der Hochzeit bei einem Arbeitsunfall ums Leben. In der Fabrik, in der wir arbeiteten, explodierte ein Kessel. Es war eine schreckliche Tragödie, Metallteile flogen durch die Luft, es gab viele Tote und noch mehr Verletzte.“ Ihr Gesicht nimmt einen abwesenden Ausdruck an und ihre Stimme spiegelt das volle Entsetzen der Katastrophe wieder.
„ Hast du gesagt, ihr habt in der Fabrik gearbeitet? Du etwa auch?“, flüstere ich, ganz gefangen von der Geschichte meiner Großtante.
Sie nickt. „Ja. Es war die Zeit des Wiederaufbaus und es wurden dringend Arbeitskräfte gebraucht. Wir haben uns bei der Arbeit in der Fabrik kennengelernt, und ich beschloss, auch nach der Hochzeit noch zu arbeiten, damit wir etwas ansparen können. Und wenn wir das erste Kind hätten, würde ich aufhören.“ Hannelore legt eine Hand auf ihren Bauch, eine sehr zärtliche Geste, wie man sie oft bei Schwangeren sieht. „Das ungeborene Kind starb mit seinem Vater. Eine Eisenstange hat sich in meinen Bauch gebohrt. Das Kind war sofort tot, ich überlebte nur knapp und war für immer gezeichnet. Seit diesem Tag war ich ein kaputter Mensch, innerlich und äußerlich.“
„ Das tut mir so leid“, sage ich mit erstickter Stimme und versuche erfolglos, gegen die Tränen anzukämpfen. Das ist eine so schreckliche Geschichte, und besonders schrecklich ist sie, weil sie wahr ist.
„ Wusste meine Oma das alles?“, frage ich verzweifelt, während mir dicke Tränen über die Wangen kullern. Sie konnte doch nicht länger gemein zu einer Schwester sein, die so Schlimmes durchlebt hat!
Hannelore zögert einen Moment, dann nickt sie. „Ich habe dir gesagt, dass ich nicht lügen werde. Ja, deine Oma wusste davon. Sie hat mich im Krankenhaus besucht, aber ich hatte immer das Gefühl, dass sie insgeheim froh war, dass mein Albert gestorben ist. Sie hatte schon vorher gesagt, er wäre nicht gut genug für mich. Ein Mann, der seine Frau arbeiten lässt, das war in ihren Augen kein richtiger Mann. Dann bekam sie selbst Kinder und wir sahen uns immer seltener. Ich bin die Patin deines Vaters“, sagt sie leise.
„ Ich weiß“, antworte ich und sie lächelt, aber ohne dass das Lächeln die Augen erreicht. „Ich hoffte, durch die Patenschaft würde ich ihr und auch ihren Kindern näher kommen. Aber sie wollte das nicht. Ihr Familienzweig war etwas Besseres, es war klar, dass ich – mit einer furchtbaren Narbe am Bauch und offensichtlich, dass ich niemals Kinder bekommen kann – keine gute Partie mehr machen würde, daher war ich für sie völlig nutzlos.“
Ich weiß überhaupt nicht, was ich dazu sagen soll, es ist einfach zu unglaublich. Meine Oma erscheint mir in einem völlig neuen Licht, und leider ist es kein gutes.
„ Dann lernte ich während einer Kur Rüdiger kennen“, fährt sie fort und ihr Blick verändert sich, wird wärmer und weicher.
„ Seine Frau war bei der Geburt seines Sohnes gestorben und er war ähnlich verzweifelt wie ich. Wir machten stundenlange Spaziergänge, als der Kleine schlief, und nach drei wunderbaren Wochen in Kur entschieden wir, dass ich zu Rüdiger und seinem Sohn nach Worms ziehen würde. Deine Oma nahm diese Nachricht denkbar schlecht auf; wir haben nämlich immer von klein auf eingetrichtert bekommen, dass Worms eine böse Stadt ist, in der böse Menschen wohnen, die unserer Familie übel mitspielen wollen.“
Sie kichert. „Ich kann nur sagen, es war die beste Entscheidung meines Lebens, nach Worms zu ziehen. Hier habe ich meine glücklichsten Jahre erlebt, habe einen wundervollen Mann an meiner Seite und habe einen großartigen Stiefsohn, den ich liebe, als wäre er mein leibliches Kind. Meine eigene Familie wollte mich nicht, Rüdigers Familie hat mich bei sich aufgenommen. Und wir haben Enkelkinder, mit denen ich zwar nicht
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