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Nur Engel fliegen hoeher

Nur Engel fliegen hoeher

Titel: Nur Engel fliegen hoeher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wim Westfield
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gucken kann. Es funktioniert nur an einem klaren Tag und nur mittags, wenn die Sonne im Süden steht. Die Kreidefelsen der Insel Mön reflektieren das Licht. Man denkt, Mön sei nahe. Doch es ist eine Täuschung. Die Insel ist siebzig Kilometer weit entfernt.
    »Tut das weh? Dieses Licht von einem anderen Stern?«
    »Man sieht es nicht alle Tage. Als ich das erste Mal den weißen Felsen von Mön gesehen habe, kam schon Sehnsucht auf. So ganz tief im Innern. Das geht wahrscheinlich jedem so, der hier lebt. Ich war damals Anfang zwanzig und dachte: Dort drüben sind die Menschen frei. Und ich bin gestraft, weil ich auf dem falschen Planeten geboren wurde. Das ist meine Schuld. Doch ich kann nichts daran ändern. Ich kann weder meine Schuld abarbeiten,
    noch kann ich mich freikaufen. Was ich auch tun werde, ich werde für diese Schuld bestraft. Die Strafe lautet: Du wirst die andere Seite des Meeres nie erreichen.«
    »Spürst du die Sehnsucht noch immer?«
    »Ich werde diese Sehnsucht fühlen, solange ich Luft zum Atmen habe. Sie können mich bespitzeln, verhaften und hinter Gittern schmoren lassen. Meine Sehnsucht besiegen sie nie.«
    »Jonas, ich mache mir Sorgen. Du wirst in diesem Lande seelisch zugrunde gehen.«
    »Es tut schon weh, wenn ich daran denke.«
    »Du musst hier raus.«
    Schweigend stehen sie auf und wandern oben auf der Steilküste vom Kap Arkona zurück nach Vitt. Als sie dort angekommen sind, hat sich der Himmel zugezogen. Es ist windig geworden und sieht nach Schnee oder Regen aus.
    In Lottes Kneipe ist jetzt etwas Betrieb. Ein paar Fischer und Wochenendausflügler sitzen an mehreren Tischen verteilt, trinken Bier, rauchen und reden laut. Jonas lässt sich von Lotte Weingläser und etwas Geschirr geben und verzieht sich mit Julia in die Kammer unterm Dach. Sie zünden eine Kerze an, ziehen sich aus, kuscheln sich ins Bett, öffnen eine Weinflasche und essen von den Vorräten, die sie mitgebracht haben.
    Draußen ist es dunkel geworden. Julia liegt auf dem Bauch und Jonas streichelt ihr den Rücken. Sie öffnet das kleine Fenster in der Dachgaube einen Spalt und sieht im fahlen Licht der Laterne vor dem Gasthaus, wie dicke Regentropfen laut auf den Boden prasseln und kleine Pfützen bilden.
    Plötzlich tippt Julia Jonas an, hält ihren linken Zeigefinger vor den Mund und zeigt mit dem rechten in Richtung Fenster. Leise erhebt sich Jonas und sieht durch den schmalen Spalt des geöffneten Fensters. Unten stehen zwei Männer mit hochgeschlagenen Kragen frierend vor dem Gasthaus. Der eine raucht eine Zi-
    garette, der andere stiert durch die Fenster der Gaststätte und taxiert die Leute, die darin sitzen.
    »Sind das nicht unsere Freunde aus dem roten Wartburg?«, flüstert Julia.
    »Ja, das sind sie.«
    Sie schließt leise das Dachfenster, löscht die Kerze und kriecht mit Jonas unter die Decke.
    »Kennst du Wolf Biermann?«, fragt Julia.
    »Ja.«
    Leise singen sie unter der Bettdecke:
     
    »Ach wie fühl'n wir uns verbunden
    mit den armen Stasi-Hunden,
    die bei Wind und Regengüssen
    auf uns aufpassen müssen ...«
     

Kapitel 12
    »Nennen Sie mich Jäger.«
    »Wer sind Sie? Was machen Sie in meinem Büro?« Als Jonas am Morgen seine Redaktion betritt, sitzt vor ihm dieser große fremde Kerl, und zwar am Schreibtisch gegenüber, wo üblicherweise sein Kollege Micha seinen Platz hat. Der Fremde ist etwa 45 Jahre alt, trägt eine perfekt sitzende dunkelbraune Lederjacke, darunter ein ockerfarbenes Hemd. Seine mittellangen schwarzen Haare sind sauber gescheitelt. Er hat eine leicht getönte Gesichtshaut wie ein Südeuropäer. Der ungebetene Gast in seiner eleganten Kleidung wirkt wie ein Fremdkörper inmitten der Tristesse aus Jahrzehnte alten Möbeln, vergilbten Tapeten und vom Nikotin gefärbten Perlongardinen.
    »Darf ich fragen, wer Sie hereingelassen hat? Sie sitzen übrigens auf dem Stuhl meines Kollegen, der jeden Augenblick kommen wird.«
    Der Fremde hat lässig die Beine übereinandergeschlagen und strahlt eine Selbstsicherheit aus, die das Blut in Jonas' Adern kochen lässt. Ohne Jonas anzusehen, sagt er:
    »Ich möchte Sie einladen, für ein, zwei Stunden mit mir zu kommen. Keine Angst, nichts Schlimmes, nur eine nette Unterhaltung. Wir werden an einen nahen Ort fahren, wo wir ungestört reden können.« Als er den Satz zu Ende gebracht hat, dreht er sich zu Jonas und sieht ihm so stechend in die Augen, dass der sich abwenden muss.
    Jonas ahnt, wer vor ihm sitzt. »Tut mir leid,« sagt er und

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