Nur Mut, liebe Ruth
durch den Kopf gehen zu
lassen, und kam zu dem Schluß, daß Katrin bestimmt nicht aufgegeben hätte, und
was Katrin konnte, traute sie sich schon lange — na, schon lange war reichlich
übertrieben, aber immerhin seit kurzer Zeit.
Die Perückendame bog in eine
Wohnstraße ein, öffnete ihre schwarze Handtasche, zog ein Notizbuch heraus,
warf einen Blick hinein und ging auf ein großes Mietshaus zu. An der Haustüre
blieb sie stehen und klingelte.
Was nun?
Ruth mußte sich blitzschnell entscheiden.
Sie war jetzt nur noch zwei Schritte von der Perückendame entfernt. Sollte sie
vorübergehen und tun, als wenn nichts wäre? Vielleicht in der Nähe warten, bis
die Verdächtige das Haus verließ, und sie dann weiter verfolgen?
Nein! Wenn Ruths Verdacht
zutraf, dann hatte die Frau mit der dunklen Perücke womöglich vor, wieder einen
alten Menschen zu bestehlen, wie es ihr schon einmal gelungen war, weil Ruth
sich nicht getraut hatte einzugreifen. Das sollte nicht noch einmal passieren!
Ruth stellte sich neben die
vermutliche Diebin in die Haustüre und gab sich Mühe, ein möglichst
unbeteiligtes Gesicht zu machen, dabei war das eigentlich gar nicht nötig, denn
die andere beachtete sie überhaupt nicht. Als sie die Haustüre aufdrückte,
schlüpfte Ruth mit hinein und lief hinter ihrem Opfer her bis zum zweiten
Stockwerk, wo die Perückendame vor einer Wohnungstüre haltmachte. Ruth tat es
ihr nach.
Es war schrecklich still in dem
halbdunklen Treppenhaus, und Ruths Herz pochte so laut, daß sie glaubte, ihr
Opfer müßte es hören. Sie wußte nun wirklich nicht mehr, wie es weitergehen
sollte. Aber sie war entschlossen, nicht klein beizugeben, sondern irgendwie
weiterzumachen. Jetzt, das fühlte sie trotz ihrer Beklemmung, war endlich die
Gelegenheit da, wenigstens sich selber zu beweisen, daß sie keine Kneiferin
war. Sie durfte nicht wieder versagen.
Ganz unvermittelt sprach die
Perückendame sie an. „Was willst du denn hier?“ fragte sie.
Ruth schluckte; ihr Herz machte
einen wilden Satz. „Ich will zu Frau Mühlberger“, behauptete sie — Mühlberger,
das war der Name, den sie vor wenigen Sekunden auf dem Namensschild entziffert
hatte.
„Komm lieber ein andermal
wieder“, sagte die Perückendame, „heute habe ich etwas Wichtiges mit Frau
Mühlberger zu besprechen.“
Ruth nahm allen Mut zusammen.
„Ich leider auch. Meine Großmutter schickt mich, und sie hat gesagt...“
Die Perückendame ließ Ruth
nicht zu Ende reden. „Weißt du was?“ sagte sie. „Dann werde ich eben ein
andermal wiederkommen.“ Sie nickte Ruth ganz freundlich zu und hüpfte die
Treppen hinunter, viel rascher und leichtfüßiger, als man ihr dem ältlichen
Gesicht nach zugetraut hätte.
Ruth war es zumute wie dem
berühmten Reiter über dem Bodensee, an den sie in diesem Augenblick tatsächlich
dachte, denn sie hatten das Gedicht von Gustav Schwab vor kurzem erst bei Frau
Dr. Mohrmann durchgenommen. Ihre Knie zitterten, ihre Hände wurden feucht, und
sie mußte sich gegen den Türrahmen lehnen, um nicht umzusinken.
Von drinnen näherten sich
schlurfende Schritte, und eine alte Frau mit einem Krückstock öffnete.
Ruth konnte nicht mehr als ein
mühsames: „Guten Tag, Frau Mühlberger!“ herausbringen.
„Nanu, was ist denn mit dir,
Kleine?“ fragte Frau Mühlberger. „Du bist ja ganz blaß! Ist dir schlecht
geworden? Komm nur herein, ich bringe dir gleich ein Glas Wasser!“
Ruth holte tief Atem, die
Erinnerung an das Glas Wasser, das der alten Frau Bär soviel Unglück gebracht
hatte, machte sie wieder munter. „Sie dürfen nicht so vertrauensselig sein,
Frau Mühlberger!“ rief sie! „Es gibt schlechte Menschen, die Sie um Ihre
Ersparnisse bringen wollen!“
Frau Mühlberger starrte Ruth
an, als wenn sie überzeugt wäre, eine Verrückte vor sich zu haben.
„Doch, es ist so!“ rief Ruth.
„Eben hat eine Frau an Ihrer Tür geklingelt. Sie sieht nett und einfach aus, aber
sie nützt das Vertrauen alter Leute aus, um sie zu bestehlen. Legen Sie die
Kette vor, Frau Mühlberger, und lassen Sie nie mehr jemanden in die Wohnung,
den Sie nicht kennen!“
Frau Mühlberger schüttelte den
Kopf. „Ich verstehe das alles nicht, Kind. Wer schickt dich denn?“
„Niemand! Ich bin dieser Frau
gefolgt, weil ich schon einmal... weil ich sie im Verdacht habe, die Großmutter
einer Freundin bestohlen zu haben. Glauben Sie mir doch, Frau Mühlberger, ich
denke mir das nicht aus, die alte Frau Bär ist wirklich
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