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Nur Mut: Roman

Nur Mut: Roman

Titel: Nur Mut: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Bovenschen
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der Wand sah und daneben in der Zimmerecke eine riesige schwarze Gestalt wahrzunehmen glaubte.
    »Hilfe! Was ist denn das?« (Hatte er Gleiches vor Stunden nicht schon einmal ausgerufen?)
    »Ne Standuhr mit ner Decke drüber. Hey Alter, komm runter, da musste nich gleich ausrasten.«
    Sie nahm ihm die Pizzaschachteln aus der Hand.
    »Die Schrankschande musste übersehen.«
    Flocke setzte sich auf den Klappstuhl.
    Flocke hatte Zahnweh.
    Flocke sah zu, wie sich Dörte auf ihr ungemachtes Bett fallen ließ und die Schachteln griffbereit auf das Betttuch legte.
    Sie klappte den Pappdeckel der oberen Schachtel auf und ergriff mit Daumen und Zeigefinger ein vorgeschnittenes Teigstück am verdickten Rand der Außenkruste und zog es aus der Kreisform. Dann senkte sie das herunterlappende spitze Ende des Pizzadreiecks in den Mund und biss ab.
    Die Pizza war matschig und lauwarm, aber das schien sie nicht zu stören.
    »Nimm«, nuschelte sie.
    Flocke sagte: »Nein wirklich, ich mag jetzt nicht.«
    »Wie bist du denn drauf?«
    Flocke hatte keine Antwort.

Speisezimmer (13 Uhr 11)
    Arme Janina. Charlotte, Leonie und Johanna aßen freudlos und mechanisch, ohne genau zu bemerken, was sie aßen. Das Risotto war hervorragend, aber keine der drei Frauen nahm das angemessen wahr. Sie waren ernst. Sie sprachen über Nadine. Sie hatten beschlossen, sie in Ruhe zu lassen, sie in den nächsten Stunden nur aus der Ferne zu beobachten. Sie mutmaßten, dass sie eine totale Abschottung suchte, indem sie möglichst banale Bild- und Tonschranken zwischen sich und der Welt errichtete. Man wollte ihr aber gleichwohl in dezenten Abständen kleine Signale geben, dass man zu ihr stehe. (»Da können wir ja gelegentlich in den Salon gehen und an dem Blumenstrauß zupfen«, sagte Johanna. Das trug ihr böse Blicke von Charlotte und Leonie ein.)
    Mehr Hilfe war im Moment nicht zu wollen.
    Johanna wechselte das Thema.
    »Ich nehme an, dein Sohn und deine Schwiegertochter zerfließen vor Dankbarkeit, jetzt, da du ihre ordinäre Göre bei dir aufgenommen hast«, sagte sie zu Charlotte.
    »Nicht die Bohne. Dankbarkeit kennen die gar nicht. Die verübeln mir jedes Jahr meiner Lebenszeit, weil es sie von ihrem Erbe fernhält. Und was Dörte betrifft: Meine dünkelhafte Schwiegertochter wollte aus ihr ein Gesellschaftspüppchen machen. Das ist komplett schiefgegangen, wie man leicht sehen kann. Als die Kleine völlig aus dem Ruder lief, wollten sie auf die Frage ›Und was macht Ihr reizendes Töchterchen‹ nicht gerne antworten: ›Sie befindet sich im Jugendknast.‹ Da kamen sie mangels irgendwelcher Alternativen auf die Idee, sie hier abzuladen in meiner, wie sie sich immer ausdrücken, ›sündhaft teuren Villa‹ – eine Ausdrucksweise, die von ihrer Angst diktiert ist, ich könnte vor meinem Ableben noch mein ganzes Geld verprassen. Die würden mich, ohne mit der Wimper zu zucken, im Falle einer Demenz im kostengünstigsten Pflegeheim verenden lassen. Unter dem Einfluss meiner bigotten Schwiegertochter hat sich mein Sohn leider zu einem Spießer verkrümmt. Ein schwacher Charakter. Ich hätte mich, als er jung war, mehr um ihn kümmern müssen, dann hätte er sich vielleicht nicht unter die Knute dieser Frau begeben. Ich war zu sehr mit meiner Wissenschaft beschäftigt. Man sagt das nicht gern über den eigenen Sohn: Aber er ist mir fremd geworden. Dieses angestrengte Paar ist der reinste Horror. Alles, verstehst ihr, alles, was sie reden, ihre Maßnahmen, ihre Ticks und ihre Tricks, ihre Vorlieben, ihre Späße (die vor allem), ihre Ängste, ihre Riten, ihr schlechter Geschmack, ihr geziertes Getue, ihre Aufstiegssehnsüchte, ihre Erziehungsmethoden, alles, wirklich alles ist durchwebt und unwissentlich unterlegt von der Rankune gegen die Kultur, die einmal mein Europa war. Warum glaubst du, ist Dörte, wie sie ist? Man müsste sich um sie kümmern. Ihre künstliche Idiotensprache ebenso wie ihr idiotisches Benehmen sind Symptome einer Luxusverwahrlosung.«
    »Hast du Dörte aufgenommen, weil du ein schlechtes Gewissen deinem Sohn gegenüber hast?«, fragte Leonie.
    Johanna kaute und dachte ernsthaft nach.
    »Nein, das glaube ich nicht, ich glaube, ich wollte ihn beschämen.
    Man müsste Dörte helfen. Sie taumelt. Macht sich zum Witz. Sie weiß nicht, wohin mit sich. Man müsste sie mögen wollen. Aber auch mein Wollen kennt Grenzen.«
    Ihr Gespräch wurde unterbrochen, weil Janina den Servierwagen hereinrollte, um die Vorspeisenteller

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