Nur nicht aus Liebe weinen
wirst.“
Doch Laine bat darum, allein sein zu dürfen.
Simon war tot. Ihr großer Bruder, der immer so stark und voller Leben gewesen war. Nie wieder würde er sie trösten, wenn sie Kummer hatte. Nie wieder würde er die Haustür öffnen, wenn sie nach Abbotsbrook heimkehrte. Nie wieder …
Erschüttert verbarg Laine das Gesicht in den Händen.
Erst als jemand das Büro betrat, schien ihre Umgebung weniger verschwommen. Schließlich erkannte sie Daniel. Am liebsten hätte sie sich in seine Arme gestürzt, doch beim Aufstehen bemerkte sie, dass sie immer noch die Teetasse in den Händen hielt.
„Daniel? Ich dachte, Jamie …“
„Er konnte eure Mutter nicht allein lassen.“ Vorsichtig nahm Daniel ihr die Tasse aus der Hand. „Die Oberin hat das Nötigste für dich gepackt. Deine Taschen sind schon in meinem Wagen. Wenn du möchtest, können wir sofort losfahren.“
„Dan, ich … ich fühle gar nichts. Das darf doch alles nicht wahr sein!“
„Ich kann es auch nicht fassen.“
„Weißt du, wie es passiert ist?“
„Sie wollten uns nichts Genaues sagen. Aber vermutlich haben sich einige Felsbrocken gelöst und Simon und einen Italiener mit in die Tiefe gerissen.“
„Oh mein Gott.“ Laine zuckte zusammen und fühlte sich, als ob sie den Boden unter den Füßen verlöre. Verzweifelt kämpfte sie gegen die Tränen. „Bitte … ich möchte jetzt nach Hause, Daniel.“
Wortlos geleitete er sie zu seinem Wagen. Nach ein paar Kilometern jedoch fühlte sie, dass die tiefe dumpfe Trauer ihr beinahe die Luft zum Atmen nahm. Ihr ganzer Körper rebellierte. Als Daniel den Wagen anhielt, sank Laine auf den Grünstreifen.
Erst nach einer endlosen Weile ließ die Übelkeit langsam nach. Nur Daniels zärtliche Umarmung bot ihr einen rettenden Halt, als sie in einem unendlichen Tränenmeer zu versinken schien.
Er gab ihr Kraft. Denn Laine wusste: Sobald sie auf Abbotsbrook ankamen, durfte sie keine Schwäche mehr zeigen. Um ihrer Familie beizustehen, musste sie ihre eigene Trauer voll und ganz im Griff haben.
Nach Simons Tod gab es jetzt nur noch einen einzigen Menschen, dem gegenüber sie ihre eigene Schwäche offenbaren konnte. Und das war Daniel. Daniel, ihr großer Bruder. Daniel, der Mann, den sie liebte. Daniel, der auf keinen Fall etwas von ihren Gefühlen erfahren durfte …
Laine holte tief Luft, schüttelte Daniels Hand ab und stieg wieder in den Wagen. „Lass uns weiterfahren. Die anderen warten sicher schon auf uns.“
Auf Abbotsbrook angekommen, entlud Daniel eilig Laines Gepäck.
„Ich habe noch einiges zu erledigen. Wir sehen uns dann später, Laine.“
Der kühle Unterton in Daniels Stimme hielt Laine davon ab, ihn anzuflehen, ihr beizustehen. Irgendwie würde sie es schon schaffen, ihr blieb keine andere Wahl.
Durch das Salonfenster machte sie eine Person aus, die anscheinend im Türrahmen Halt suchte, den Kopf gesenkt. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie Jamie. Bestürzt, ihren Bruder so zu sehen, fasste Laine sich ein Herz und ging ins Haus.
Die beiden umarmten sich verzweifelt. „Oh Gott, Laine, es will einfach nicht in meinen Kopf, wie so etwas passieren konnte.“ Im nächsten Augenblick sah er sich suchend um. „Wo ist Daniel? Die beiden fragen schon die ganze Zeit nach ihm.“
„Er hat noch etwas zu erledigen.“ Sie zögerte kurz. „Jamie, halte mich bitte nicht für herzlos, aber findest du nicht, Candida wäre bei ihrer eigenen Familie besser aufgehoben?“
„Ja, das habe ich schon vorgeschlagen. Aber ihr Verhältnis zu ihren Eltern ist offenbar ziemlich schlecht. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schrecklich die letzten Stunden waren. Candidas Gerede, dass ein Fluch auf Anapurna läge und sie die ganze Zeit über Schreckliches geahnt habe, war zu viel für Mum. Aber das kann man ihr wohl kaum verdenken.“
„Vielleicht, aber …“ Zärtlich strich sie über Jamies Rücken. „Ich gehe hoch zu Mutter und kümmere mich um sie.“ Und wer kümmert sich um mich? Daniel, wann kommst du endlich zurück, ich brauche dich jetzt. Wir alle brauchen dich.
Damals wagte sie nicht, über die Zukunft nachzudenken. Denn sie ahnte, dass durch diese Katastrophe alles anders werden würde.
5. KAPITEL
Es war Zeit, endlich ins Bett zu gehen. Laine hatte genug gegrübelt und streckte ihre müden Glieder. Dennoch rasten Gedanken durch ihren Kopf, die sie nicht zur Ruhe kommen, geschweige denn schlafen ließen. Zwar war der Weg bis hierhin schon sehr steinig gewesen, aber
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