Nur zu deinem Schutz (German Edition)
»Weißt du was?«, sagte sie.
»Was?«
»Wir schaffen das. Alles wird gut, da bin ich mir ganz sicher.«
Ich dachte an eine Zeit zurück, als ich zwölf gewesen war. Mom, Dad und ich hatten damals drei Monate in Ghana verbracht. Sie waren für eine Wohltätigkeitsorganisation namens ABEONAS ZUFLUCHT tätig gewesen, die sich hauptsächlich für arme, in Not geratene Kinder einsetzte. Wenn Hilfe in entlegeneren Gebieten gebraucht wurde, fuhr mein Vater in der Regel allein hin und war dann meistens für zwei, drei Tage weg. Als er eines Nachts wieder einmal zu einem solchen Einsatz unterwegs war, wachte ich mit Schüttelfrost und Fieber auf. Es ging mir so schlecht, dass ich dachte, ich würde sterben. Meine Mutter fuhr sofort mit mir ins Krankenhaus, wo sich herausstellte, dass ich Malaria hatte. Zeitweise war ich kaum bei Bewusstsein, und in den wachen Momenten war ich mir sicher, dass ich es nicht schaffen würde. Mom wich drei Tage lang nicht von meiner Seite. Sie hielt meine Hand, beteuerte mir immer wieder, dass alles gut werden würde, und es waren nicht unbedingt die Worte selbst, die mich daran glauben ließen, sondern der Klang ihrer Stimme.
Jetzt hörte ich diesen Klang wieder.
»Es tut mir leid«, sagte Mom.
»Ist schon in Ordnung«, erwiderte ich.
»Was ich getan habe … Was aus mir geworden ist …«
»Das liegt hinter uns.«
Meiner Mutter war das offenbar nicht klar, aber für mich sah die Sache so aus: Sie hatte sich mein ganzes Leben lang um mich gekümmert, es war völlig okay für mich, dass ich jetzt mal eine Weile an der Reihe war.
Sie summte, während sie anfing, ihre Tasche auszupacken, und fragte mich dann nach der Schule und dem Basketball. Ich erzählte ihr nur das Wichtigste. Weil ich nicht wollte, dass sie sich Sorgen machte, erwähnte ich weder Ashley noch die Hexe und ihre rätselhafte Bemerkung über Dad. Natürlich hätte ich nichts lieber getan, als ihr alles zu erzählen. Sie war – wie schon gesagt – ein durch und durch ehrlicher Mensch, so ehrlich, dass es fast schon etwas Absurdes hatte. Aber das, was ich erlebt hatte, fiel nicht unbedingt in die Kategorie der Dinge, mit denen man jemanden belasten sollte, der gerade aus einer Entzugsklinik entlassen worden ist. Ich konnte warten.
Mein Handy klingelte und ich warf einen Blick aufs Display. Es war Löffel, schon zum dritten Mal an diesem Morgen. »Wieso gehst du nicht ran?«, fragte Mom.
»Es ist bloß jemand aus der Schule.«
Das gefiel ihr. »Ein neuer Freund?«
»Glaub schon.«
»Sei nicht unhöflich, Mickey. Geh ran.«
Ich trat in den Flur hinaus. »Hallo?«
»Wusstest du, dass nur die männlichen Truthähne kollern?«, sagte Löffel. »Die Weibchen geben bloß so eine Art Klickgeräusch von sich.«
Deswegen hatte er dreimal angerufen? Oh Mann. »Super, Löffel, aber gerade ist es wirklich schlecht.«
»Wir haben Ashleys Schließfach vergessen«, sagte Löffel.
Ich hielt das Handy ans andere Ohr. »Was ist damit?«
»Sie hatte hier in der Schule doch ein Schließfach, oder?«
»Ja.«
»Vielleicht finden wir darin ja irgendeinen Hinweis.«
Genial, dachte ich. Aber ich wollte Mom nicht allein lassen. »Ich ruf dich zurück«, versprach ich und legte auf.
»Worum ging es?«, fragte Mom, als ich ins Zimmer zurückkam.
»Ach, nur um so eine Veranstaltung in der Schule.«
»Was für eine Veranstaltung?«
»Nichts Wichtiges.«
Sie sah auf die Uhr. Es war halb neun. »Du wirst zu spät kommen.«
»Ich wollte heute aber eigentlich lieber bei dir bleiben«, protestierte ich.
Mom zog eine Braue hoch. »Und die Schule schwänzen? Kommt nicht infrage, Mickey. Außerdem habe ich noch jede Menge zu erledigen. Ich brauche noch ein paar Sachen zum Anziehen, muss einkaufen, damit ich uns heute Abend etwas Leckeres kochen kann, und nachmittags muss ich in die Klinik zur ambulanten Therapie. Komm, ich fahre dich.«
Widerstand war zwecklos, das wusste ich, also fügte ich mich und schwang mir meinen Rucksack über die Schulter. Mom ließ während der Fahrt das Radio laufen und sang leise mit. Wenn sie sonst sang – voller Inbrunst, aber in den schiefsten Tönen –, zog ich gequälte Grimassen. Aber heute war das anders. Ich saß neben ihr, schloss die Augen und hörte einfach zu.
Zum ersten Mal seit Langem gestattete ich es mir, wieder so etwas wie Hoffnung und Zuversicht zu empfinden. Die Frau, die mich zur Schule fuhr, war meine Mom. Der Junkie, den wir vor sechs Wochen in der Klinik abgeliefert hatten, war es
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