Nuramon
Kerkerfestung war diese Zuneigung, die die Menschen ihr entgegenbrachten, zu spüren. Selbst Sarogul lächelte sie an, wartete auf Yenwaras Bitte im Saal und schloss sogar die beiden Flügel des Tores, damit Daoramu und das Mädchen ungestört sprechen konnten.
»Dein Vater hat Weramul eingenommen«, sagte Yenwara mit starrer Miene.
Daoramu nickte. »Eine so große Stadt zu erobern dürfte seinen Ruf in meiner Heimat stärken.«
Das Mädchen musterte sie mit ihren großen, schwarzen Augen, und Sorgenfalten schoben sich auf die junge Stirn. »Die Tochter des siegreichen Feldherrn aus Rache zu töten würde sicher auch den Ruhm meines Herrn mehren.«
»Aber nicht sein Ansehen«, entgegnete Daoramu.
Yenwara legte den Kopf schief, sodass ihr Gesicht nur halb von ihrem langen Wellenhaar gerahmt war. »Du weißt, was ich meine.«
»Ich weiß es. Aber wenn du mir keinen Dolch mitgebracht hast oder mir nicht mit irgendeinem Plan aus diesem Kerker helfen kannst, sehe ich nicht, was wir an dieser Lage ändern können.«
»Ich wollte es dich nur wissen lassen. Ich möchte nicht, dass du überraschend …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende.
»Seit ich als Geisel zurückblieb, wusste ich, dass Mirugil mir jedes Leid antun kann, das ihm beliebt. Er könnte sogar dir befehlen, mich zu foltern oder zu töten. Und was würdest du dann tun?«
Yenwaras Augen glänzten. »Ich könnte mich widersetzen.«
»Und deine Familie? Mirugil hat dir gedroht, deinen Eltern etwas anzutun, wenn du ihm nicht gehorchst.«
»Woher weißt du das?«
»Ich kenne das Spiel der Geiseln. Und ich weiß, dass Mirugil ein Meister dieses Spiels ist.«
Das Mädchen zögerte. »Du glaubst also, ich würde gehorchen?«
»Ja, das glaube ich. Weil du es dir nicht leisten kannst, mit dem Schicksal deiner Familie zu spielen.«
Yenwara senkte den Kopf.
»Schau mich an«, sagte Daoramu und wartete, bis die schwarzen Augen Yenwaras ihr entgegenschauten. »Wenn es so weit kommen sollte, weiß ich eines: Du wirst es nicht mit Freude tun.«
Ein gequältes Lächeln schob sich auf Yenwaras Gesicht.
Es klopfte an der Tür, und Sarogul trat ein. »Verzeih, Yenwara«, sagte er. »Ich habe den Befehl, die Gesandte wieder in ihre Zelle zu bringen. Es kommen neue Gefangene.«
Yenwara nickte, dann fasste sie Daoramus Hände. »Ich werde alles tun, damit es nicht so weit kommt.«
Daoramu nickte.
Im Saal machte Yenwara den Abschied kurz. Sie versprach, am nächsten Tag zurückzukehren und einige Bücher mitzubringen.
Während von oben bereits Stimmen zu ihnen herabdrangen, führte Sarogul Daoramu zurück in ihre Zelle. Sonst legte sie sich sofort auf ihr wollenes Bett und starrte durch den Schlitz hinaus auf die erleuchtete Wand, nun aber war sie neugierig. Denn mit jeder Veränderung mochte sich ihr eine neue Möglichkeit zur Flucht bieten. Vielleicht war es sogar ein Adliger, der zeitweise hierbleiben musste, weil er in Ungnade gefallen war, später aber wieder zu alten Würden gelangte und sich an sie erinnerte? Und so harrte sie geduldig an ihrer Tür aus.
Es dauerte nicht lange, und zwei Dutzend Festungswachen führten einen bärtigen Mann den Gang entlang. Seine Lederrüstung wies ihn als Krieger aus. Seine Hände waren gefesselt, und seine Arme an den Körper gebunden. Selbst die Füße waren lose verknüpft, sodass er keine großen Schritte machen konnte. Begleitet wurden die Wachen von vier Kriegern, die den Gefangenen, so vermutete sie, in die Festung gebracht hatten.
Zügig geleiteten die Wachen den Fremden in die Zelle, die Daoramus gegenüberlag. Nach einem Augenblick der Stille erhob sich dort Gebrüll, und eilig verließen die Wachen den Kerkerraum. Sarogul steckte den Schlüssel, der mit den anderen an einem Ring befestigt war, ins Schloss und drehte ihn rasch herum, während zwei seiner Gefährten die Riegel vorschoben. Erst als alle ein wenig zurücktraten, verstummte die Stimme jenseits der Tür.
»Ihr müsst nun gehen«, erklärte einer der Gefängniswächter einem der fremden Krieger, der offenbar deren Anführer war. Dieser nickte und murmelte: »Wir wollen hier nicht länger bleiben, als uns lieb ist.« Einer seiner Gefährten schaute durch das Sichtfenster direkt in Daoramus Augen und brachte ihren Atem zum Stocken. Unter dem Helm erkannte sie auffällig blasse Haut, und die Augen leuchteten wie braune Edelsteine. Ihre Blicke trafen einander nur kurz, und schon folgte der Fremde seinen Gefährten und den Kerkerwachen den Gang entlang.
Weitere Kostenlose Bücher