Nuramon
Tjuredanbeter da draußen irgendetwas von den Geistern gelernt haben, könnten sie ein Tor öffnen und kommen. Es entscheidet sich nun, wie viel von dem, was die Geister sagten, Schein und wie viel Wirklichkeit war.« Damit schwieg er und sandte seine Sinne in die Welt hinaus.
Die Reiter waren an ihrem Lagerplatz angekommen; die Geister befanden sich noch immer dort, wo sie gewesen waren. Der Manneber hatte seine Gestalt gewandelt. Er trug nun Guillaumes Gesicht, und die Krieger und Magier gaben sich unterwürfig. Sie fanden einen Wasserschlauch, den Rawila und Gaerun in der Eile vergessen hatten, und den verzauberten Stein, der Wärme aussandte. Doch die Tjuredanbeter machten keine Anstalten, ein Tor zu öffnen. Im Gegenteil. Auf einen Wink des Geistes mit Guillaumes Antlitz hin stiegen sie auf die Pferde und machten sich davon. Die Geister kamen nicht näher, sondern erhoben sich in die Luft. Einige schwebten in den Riss über dem Fjord, die Übrigen flogen mit dem Anführer auf die Klippe zur großen Quelle hinauf.
Nuramon öffnete die Augen und erhob sich. »Sie kommen nicht«, sagte er, wandte sich an Daoramu und schloss sie in die Arme.
»Es war alles nur ein Schein«, sagte Nylma.
»Noch«, entgegnete Nuramon und dachte an die gewaltigen Kräfte, die in dem Riss im Fjord von Firnstayn flossen. »Alle Schrecken, die diese Welt je sah, lauern in den Tiefen und warten darauf, wieder ans Tageslicht zu kommen. Wenn alles von Magie durchflutet ist, könnten Wesen wie jene dort draußen diese Welt beherrschen. Sie finden deine Schwächen und wenden sie gegen dich, bis du ihrem Willen folgst. Und wer weiß, welche Wesen noch an die Oberfläche dieser Welt gespült werden.« Er schaute in die bedrückten Gesichter seiner Gefährten und sagte schließlich: »Nun wissen wir, wie alles enden würde – und warum wir es verhindern müssen.«
Orakelblick
Bjoremul hielt auf der Insel Wache, auf der einst Nuramons Freunde ins Mondlicht gegangen waren, und er schämte sich in der Stille der Nacht. Für einen Augenblick hatte am Fjord von Firnstayn ein Zweifel an ihm genagt. Der Geist hatte in seinem Kopf mit ihm gesprochen. Mit vor Häme triefender Stimme hatte er gesagt, dass er sein Schicksal zum zweiten Mal vertan hätte – einmal, als er sich gegen seinen König wandte, und das zweite Mal, als er die Seiten wechselte und seine Familie nachholte. Bjoremul kannte diesen Zweifel; viele Jahre und insbesondere in der Zeit nach Dyras Freitod hatte er ihn geplagt. In seiner Scham dachte er nun an seine Tochter. Lyasani war der Beweis, dass der Geist gelogen hatte. Denn sie war sein Glück.
Als Gaerun Bjoremul ablöste, gesellte Rawila sich zu ihm, und sie tauschten aus, was der Geist vor Firnstayn ihnen eingegeben hatte. Bei Gaerun hatte er den Zweifel an Nuramon geschürt, indem er dem Alvaru die Schuld an Narlos und Wirlans Tod zuschob – ein Gedanke, den der junge Ilvaru beinahe schon vertrieben hatte und der nun mit neuer Kraft zurückzukehren drohte. Und Rawila hatte der Geist übel zugesetzt. Er hatte von ihrer schlimmen Vergangenheit gesprochen, von der Folter durch ihre Zieheltern und davon, dass ihr Schlimmeres bevorstand, falls sie Nuramon folgte. Mit hängenden Schultern sah Rawila zu Loramu hinüber. »Sie zweifelt keinen Augenblick«, sagte sie. »Dann werden wir es auch nicht tun«, flüsterte Gaerun.
Nylma übernahm die letzte Wache und schaute den Gefährten beim Schlafen zu. Der Geist hatte ihr vorgeworfen, dass sie Nuramon, ehe sie ihrer Liebe zu Yargir sicher gewesen war, begehrt hatte. Sie hatte Yargir in Jasbor gestanden, dass sie neugierig sei, wie eine magische Liebesnacht mit Nuramon aussah. »Das würde mich auch brennend interessieren«, hatte er gesagt, und sie hatten gemeinsam gelacht. Eben dieses Lachen hatte der Geist in ihrem Kopf zum Leben erweckt. In ihrer Erinnerung war es ein unschuldiges Lachen gewesen, doch der Geist hatte es verdorben.
Es waren die Lügen eines jämmerlichen Wesens. Die Liebe zwischen ihr und Yargir anzuzweifeln war lächerlich. Yargir würde für sie immer der Mann ihres Lebens bleiben. Doch er war tot, und sie lebte weiter. Sie war eine älter gewordene Frau und liebte einen älter gewordenen Mann. Und niemand würde sie von ihrem Weg abbringen, nicht einmal ein Geist, der in ihr Innerstes blicken konnte.
Loramu wachte früh auf und beobachtete Nylma, die gedankenverloren ins Feuer starrte. Mit dem ersten Tageslicht kam der Schnee, Nylma schaute lächelnd in
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