Nybbas Nächte
hob die Brauen. „War das ein Dämon?“
„Ihr würdet ihn ein Ungeheuer nennen, aber ja, er war ein Dämon. Sah aus wie eine riesige Seeschlange. Der Legende nach wurde er von einem größenwahnsinnigen Kelten namens Assipattle herausgefordert. Im Kampf schlug er mit seinem Schwanz die Meerenge zwischen Norwegen und Schweden. Assipattle drosch ihm die Zähne aus dem Maul und diese wurden zu den schottischen Inseln. Dann tötete der Kelte Stoorworm. Der Kadaver wurde fortgespült, bis er an besagtem Meeresrücken hängen blieb, wo er versteinerte und zu Island wurde.“
„Wir fahren also gerade über die fossile Leiche eines Riesendämons? Nett.“
Nicholas ignorierte ihren Sarkasmus. „Manche sagen ja, er sei gar nicht tot. Daher gibt es häufig Erdbeben, so viele Vulkane und heiße Quellen auf Island.“ Er verstellte seine Stimme, sodass sie tief und schaurig klang. „Weil sein Herz alle paar Jahre noch einen Schlag tut und er tief im Inneren dieser Insel …“
Ein Knuff in den Oberschenkel brachte ihn zum Schweigen. „Hör auf damit.“
„Gruselt es dich?“ Er grinste selbstzufrieden. „Oder findest du die Vorstellung ekelhaft?“
„Sie macht mich traurig.“
Sein Grinsen verwandelte sich in ein liebevolles Lächeln, doch er erwiderte nichts mehr, und sie konzentrierte ihren Blick auf die Straße. Vor ihnen wuchsen die Konturen der ersten größeren Bauten heran. Ein paar Kilometer weiter passierten sie einen Hafen, bald folgten Fabriken sowie ein Einkaufszentrum. Joana musste vom Gas, denn nun führte der Weg mitten durch die um Reykjavik gescharten Kleinstädte.
Rut Jensdóttir wohnte im Südosten Reykjaviks, in einer Reihenhaussiedlung, in der die Fassaden und Dächer der Häuser in bunten Mischungen aus Blau, Weiß und Rot, den Farben Islands, zusammengewürfelt waren. Die wurmstichigen Holzwände von Ruts Haus waren blau gestrichen. An den Ecken sowie den weißen Fenstern und Türen blätterte die Farbe ab, der Vorgarten war verwildert. Im Gegensatz zu den anderen Häusern war dieses nicht vorweihnachtlich geschmückt, machte sogar einen verfallenden Eindruck.
Joana parkte am Straßenrand, gemeinsam stiegen sie aus. Auf dem Weg zur Haustür griff sie nach Nicholas’ Hand und drückte sie leicht.
Seine Mundwinkel zuckten amüsiert. „Keine Angst, ich werde mich benehmen.“
Anstatt zuzugeben, dass sie tatsächlich Unhöflichkeiten befürchtet hatte, verdrehte sie die Augen. In ihrem Magen machte sich ein dicker Kloß aus Nervosität breit, als sie an die Tür klopfte, wobei unter ihren Fingerknöcheln weitere Farbsplitter vom Holz rieselten. Im Inneren des Hauses erhob sich schrilles Gekläff und hielt noch an, als die Tür geöffnet wurde.
Eine ältliche Frau mit blassrotem, zu einem Dutt gedrehtem dünnem Haar, musterte erst Nicholas und dann Joana über den Rand ihrer Brille hinweg. Dann zischte sie ihrem Hund einen isländischen Befehl zu. Das Bellen verstummte und wurde zu einem heiseren Knurren. Joana verstand nicht viel von Hunden, sie erkannte nur, dass das rotbraune Tier an einen Spitz erinnerte, mindestens dreimal so viel wog als gesund gewesen wäre, und äußerst schlechte Stimmung verbreitete.
„Frau Jensdóttir?“, fragte sie und zwang sich zu einem freundlichen Lächeln, das möglichst wenig Nervosität verriet. „Guten Tag. Ich bin Joana Sievers. Das“, sie wies auf Nicholas, der sein harmlosestes Gesicht zur Schau trug, „ist mein Freund Nicholas Ny… Ânjâm.“ Shit. An die richtigen Nachnamen hatte sie sich immer noch nicht gewöhnt. Sei es drum, die Clerica wusste ohnehin, wer sie waren. Sie ließ der Älteren ein paar Sekunden Zeit, um zu reagieren, doch die musterte sie nur kritisch. Joana stutzte. Hatte sie sich im Haus geirrt?
„Wir hatten uns für den Mittag angekündigt“, half sie nach. „Sie erinnern sich doch an unser Telefonat, nicht wahr?“
„Ich bin nicht so alt, dass die Demenz mich schon im Griff hat.“ Rut Jensdóttir sprach mit heiserer Stimme, ihr Deutsch hatte einen harten Akzent, an eine Mischung aus Russisch und Niederländisch erinnernd. „Ich hatte euch später erwartet. Ist der da ungefährlich?“ Sie zeigte auf Nicholas, als wollte sie ihm den Finger zwischen die Rippen bohren.
„Der will nur spielen“, antwortete Nicholas und warf dem knurrenden Hund einen betont freundlichen Blick zu, der diesen sofort in einen der angrenzenden Räume flüchten ließ.
Joana war nicht mehr sicher, ob Nicholas’ Begleitung eine kluge
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