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Nybbas Nächte

Nybbas Nächte

Titel: Nybbas Nächte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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schüttelte und sie mit einer Handbewegung zu sich rief.
    „Ich muss jetzt los, aber ich brauche nur eine halbe Stunde“, sagte er, zog sie über sich und küsste ihre Stirn. Ihr Haar fiel ihm ins Gesicht, sie spürte ihn tief einatmen. „Du solltest die Tür abschließen. Hast du deine Pistole?“
    „Ich habe keine Angst.“ Joana war inzwischen überzeugt, dass man ihr nichts antun würde. Tomte hatte ihr versprochen, auf dem Gang zu bleiben. Ihm vertraute sie, wenn es vielleicht auch nur daran lag, weil er ihre Sprache sprach, und das zudem mit einem leichten norddeutschen Akzent, der ihr vertraut war. Er hatte erzählt, dass er erst seit drei Jahren in Island lebte und ursprünglich aus Bremen kam. Jemand, der sein Leben lang in der Großstadt den Menschen gespielt hatte, ohne auffällig zu werden, war bestimmt keine Gefahr. Seine Größe, er war ein wenig kleiner als Joana, sowie die knabenhafte Statur taten ihr Übriges. „Mach dir keine Sorgen.“
    „Okay. Aber bleib im Zimmer. Ich bin gleich zurück.“
    „Sei vorsichtig“, flüsterte sie und sah das winzige, dunkle Flackern in seinen Augen. Mit ihrer Bitte war nicht nur gemeint, er möge auf sich aufpassen. Ebenso bat sie ihn, achtzugeben, dem gewählten Menschen keinen bleibenden Schaden zu verursachen. Er antwortete nicht darauf, das tat er nie. Sie hoffte trotzdem, er würde ihrer Bitte nachkommen.
    Joana trat einen Schritt zurück, als Nicholas seinen Körper verließ. Das immer gleiche Schaudern durchfuhr sie. Das Bild mochte ihr vertraut sein, doch es machte ihr nach wie vor Angst, wenn sich sein Körper vor Schmerzen krümmte. Anders ging es nicht. Eiseskälte strömte durch ihr Blut, und obwohl es rein gar nichts nutzte, schlag sie die Arme um den Oberkörper. Er beeilte sich und verschwand in einer fließenden Bewegung durch die kleine Fensteröffnung. Prompt ließ die Kälte nach.
    Sie trat zur Tür, berührte den Schlüssel mit den Fingerspitzen. Seit dem Morgen ging ihr Tante Agnes nicht mehr aus dem Kopf. In den Gesprächen mit Demjan hatte sie erfahren, dass die Festung über eine topmoderne Hightech-Telefonanlage verfügte, von der aus Gespräche möglich waren, die sich von nichts und niemandem zurückverfolgen ließen. Die Gelegenheit war zu günstig, zu einmalig, um sie ziehen zu lassen. Statt den Schlüssel im Schloss umzudrehen, drückte sie die Klinke hinunter.

    Mit seiner ganzen Größe atmete sein Schattenleib den eiskalten Wind, und der Wind atmete ihn. Wie lange war er nicht mehr frei geflogen? Es war zu lange her, seit er zuletzt Schneeflocken gespürt hatte, die seinen Körper teilten, durch ihn hindurchglitten wie Fische durch Wasser. Auch die Luft fühlte sich flüssig an. Er war eine kraftvolle Strömung, die durchs Meer jagte. Sein Ozean war der nachtschwarze Himmel. Die Gezeiten seines Hungers bestimmten die Richtung.
    Die ersten Menschen witterte er nach wenigen Kilometern. Unter ihm befand sich ein Gehöft, eine Ansammlung kleiner Wohnhäuser, die sich Schutz suchend vor der sie umgebenden Einsamkeit aneinander schmiegten. Aus ihrem Inneren blinzelten Lichter, die ihn ebenso lockten wie die Düfte der menschlichen Gefühle. Neben einem der erleuchteten Fenster sank er nieder. Er materialisierte sich nicht vollständig, gabseinen Umrissen nur so viel Substanz, um gegen eine Fensterscheibe zu klopfen, wie ein Zweig im Wind es täte. Ein Gruß an die Frau, die er hinter dem Glas witterte. Sogleich spürte er Beklemmung, einen fragenden Laut in dieser bellenden Sprache. Die Stimme der Frau war eine Leine, die er mental ergriff. Sein Geist arbeitete sich an ihr entlang. Durch pure Konzentration gelangte er in ihr Bewusstsein, ohne ihr in die Augen sehen zu müssen.
    Komm Zu mir
.
    Es fiel ihm nicht leicht, sie ohne Blickkontakt zu manipulieren, sie schweigend und in traumwandlerischen Schritten zur Haustür gehen zu lassen. Sie gehorchte körperlich, doch ihr Geist wehrte sich heftig. Ihr Herz lockte mit seinem Gepolter und ließ ihn vor Hunger lautlos grollen. Es vibrierte in seiner Kehle, ohne dass er im Schattenleib einen Ton hätte von sich geben können. Als die Frau die Verrieglung der Tür öffnete, wäre sie ihm beinahe entglitten. Doch er hörte ein leises Aufseufzen in ihrem Atem und fand in dem Hauch ihrer Stimme genug Halt, um sie weiterzuziehen. Endlich verließ sie den trügerischen Schutz des Hauses und kam ihm entgegen. Sie trug einen abgetragenen Hausanzug und hielt ein Buch in der Hand. Vermutlich las

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