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Ob das wohl gutgeht...

Ob das wohl gutgeht...

Titel: Ob das wohl gutgeht... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Tibber
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Psychiatrie zusammenhing; dies war der Grund, daß sich die Perspektiven meiner Arbeit verschoben.
    Es war auch eine Einführung in die Psychiatrie, denn wie ich nun erkannte, war paradoxerweise jener Zweig der Medizin, welcher mehr als irgendein anderer die Zeit eines praktischen Arztes beanspruchte, derjenige, für den er am schlechtesten ausgebildet war. Zu meiner Studienzeit war Psychiatrie ein unwesentlicher Teil des Lehrplans, und ich war mir der Unzulänglichkeit meiner Kenntnisse dieses Fachs durch meine Unterhaltungen mit Toby bewußt geworden.
    Die Art, eine psychiatrische Krankheitsgeschichte aufzunehmen, wie man sie uns an der Universität beigebracht hatte, entsprach keineswegs den Anforderungen einer allgemeinen Praxis. In der Klinik konnte man sich vielleicht noch den Luxus eines Halbstundengesprächs mit einem Patienten erlauben, in der Arztsprechstunde durfte der Patient sich glücklich preisen, wenn man sich fünf Minuten mit ihm befaßte.
    Die Arbeit eines praktischen Arztes war einerseits schwierig, weil viele Patienten es nicht für nötig hielten, ihm den leisesten Hinweis darauf zu geben, daß ihre Probleme einen psychischen Ursprung haben konnten, andererseits wieder leichter, weil er vor dem Krankenhausarzt den Vorzug hatte, vom Patienten unmittelbar über dessen Familie und dessen sozialen Hintergrund Genaues zu erfahren.
    In der Sprechstunde des praktischen Arztes wurde nur selten über »Depressionen« geklagt. Ich hatte jedoch nun bereits gelernt, diejenigen mit anderen Augen zu betrachten, die sich als »blutarm« oder »heruntergewirtschaftet« bezeichneten, die »eine Grippe gerade losgeworden waren« oder glaubten, daß ihre Symptome »mit den Wechseljahren« zusammenhingen oder daß sie »unter zu niedrigem Blutdruck« litten. Mein Verständnis für Fälle, in denen über Mattigkeit und Müdigkeit geklagt wurde, war größer geworden. Ich schickte jetzt keine Hausfrauen mehr weg, die darüber klagten, daß sie ihre Hausarbeit nicht mehr schafften, oder Männer, denen es im Beruf ähnlich erging. Ich betrachtete die ständig wiederkehrenden Wünsche nach Eisentabletten, Vitaminen, Stärkungsmitteln oder irgendwelchen anderen harmlosen Suggestionsmitteln, die ich gerade vorschlagen mochte, mit größerer Aufmerksamkeit. Ich stellte überrascht fest - denn dies hatte ich früher nie bemerkt daß viele Patienten sich ihrer »Gefühle« schämten und nicht zugeben wollten, daß sie zunehmend »empfindlicher« geworden waren und ihnen die allertrivialsten Aufregungen unerträglich oder kleinere Hindernisse schon unüberwindlich erschienen. Jeder dachte, er sei der einzige in der Welt, der im Büro in die Luft ging oder der seinen Kindern nicht genügend Beachtung schenkte. Jeder glaubte, es sei ein Zeichen von Schwäche, mit dem Arzt seine »Gefühle« zu diskutieren. Für all dies und noch viel mehr hatte Toby mir die Augen geöffnet.
    Von ihm erfuhr ich, daß die übliche Redensart, »Leute, die über Selbstmord reden, tun es niemals«, nicht stimmte; daß niemand spontan über seine sexuellen Schwierigkeiten sprach und daß der Arzt vermeiden sollte, oberflächliche und zwecklose Ratschläge zu geben wie »Sie sollten sich noch ein Kind anschaffen« oder »Nehmen Sie doch einen Halbtagsposten an«. Woche um Woche übte ich mich in einer Fähigkeit, die während meines Studiums völlig vernachlässigt worden war, nämlich, die Symptome der Patienten zu tolerieren, ohne zu meinen, auf jedes automatisch mit einer Untersuchung oder einer Pille reagieren zu müssen, auf jeden Fall den Patienten zu einer weiteren Konsultation zu bestellen, während ihm diese Entscheidung früher allein überlassen worden war.
    Meine wöchentliche Besprechung in St. Markus hatte mir also neue Einsichten in die Arbeit des praktischen Arztes vermittelt, mich aber vielleicht auch ein wenig ungeduldiger mit jenen gemacht, die es darauf abgesehen hatten, meine Zeit mit wirklich trivialen und impertinenten Forderungen zu vergeuden.
     

8
     
    In den folgenden Tagen setzte mir Toby im Krankenhaus den Kopf zurecht. Es gebe keine trivialen oder impertinenten Wünsche oder Forderungen. Die »zitternde« Mutter, die zum Telefon stürzte, wenn ihr Kind nur nieste, leide höchstwahrscheinlich selbst unter einer grundlegenden Verhaltensstörung. Der Geschäftsmann in mittleren Jahren mit einer ständig wiederkehrenden harmlosen Halsentzündung mochte, richtig befragt, zugeben, daß er eine krankhafte und unbegründete

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