Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still
ein. Daß die Tage länger werden, hatte ich ja schon gemerkt, aber zum ersten Mal fällt mir auf, daß es zur Abendessenszeit nicht dunkel ist. Den Vorhang vor dem Seitenfenster kann ich noch nicht zuziehen.
»Am besten bringst du Vater gleich selbst einen Teller«, sage ich.
»Warum soll ich das machen?«
»Ich weiß nicht, wie er auf das hier reagiert.«
»Er wird doch schon mal Paprika gegessen haben?«
»Nie.«
Es schmeckt mir, was er gekocht hat. Auch der Wein schmeckt mir. Als ich mir ein zweites Mal auffülle, gießt Henk unsere Gläser noch einmal voll.
»Wenn dieses Haus noch gestanden hätte«, sagt er nach einer Weile und zeigt dabei mit dem Daumen über seine Schulter, »hätte ich dann da wohnen sollen?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Wieso natürlich? Ich bin doch der Knecht?«
»Wir leben nicht mehr in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts.«
»Vielleicht hätte es mir aber gefallen.«
»Für dich allein zu wohnen?«
»Ja. In einem kleinen, übersichtlichen Haus.«
»Fühlst du dich hier nicht wohl?«
Statt zu antworten, seufzt er und schabt mit dem Löffel über seinen Teller. Dann füllt er sich eine dritte Portion auf.
Ich bin benebelt vom Wein und denke an Bier. Bier aus der Flasche, während ich im Sessel in einem Haus sitze, das nur noch in meinem Kopf existiert. Jazz. In gewisser Weise ist Jazzmusik einsame Musik, vor allem, wenn sie leise aus einem Radio kommt, das irgendwo in einer Ecke steht.
Warum habe ich die Dinge einfach laufen lassen? Ich hätte zu Vater auch nein sagen können, mach’s allein oder verkauf den Hof.
Großvater van Wonderen wohnte in Edam, er hat Großmutter van Wonderen um sechs Jahre überlebt. Einmal in der Woche fuhr ich für ein halbes Stündchen zu ihm. Von seiner Altenwohnung hatte er Aussicht auf einen Teich mit Springbrunnen in der Mitte. Sein kleines Wohnzimmer schien immer Sonne zu haben, unabhängig vom Sonnenstand. Wir tranken eine Tasse Kaffee, und ich wußte kaum, was ich sagen sollte. Ich war froh, wenn die halbe Stunde um war. Wenn ich dann wieder im Auto saß und heimfuhr, dachte ich: Es wäre besser, wenn ich gar nicht käme, dann wäre er immer allein und würde es nicht anders kennen. Die eine halbeStunde mit mir macht ihn viel einsamer, als er ohne diese halbe Stunde wäre. Wenn man etwas nicht anders kennt, weiß man nicht, was einem fehlt. Weiß ich nicht jetzt schon, daß Henk weggehen wird? Natürlich geht er weg, warum sollte er bleiben? Er hat hier nichts verloren.
»Noch Wein?«
Ich lege die Hand auf mein Glas.
»Gehst du auch mal aus?«
»Aus?«
»Ja. In eine Kneipe, oder… Mein Vater hat mit ein paar Leuten Karten gespielt, einmal die Woche.«
»Nein«, sage ich.
»Ich würde gern mal ausgehen.«
»Dann mußt du nach Monnickendam, samstags abends.«
»Ist das was?«
»Früher ja.«
»Stell ich mir langweilig vor, so ein Dorf.«
»Du kannst natürlich auch nach Amsterdam.«
»Na ja . . .«
Ich stehe auf und räume den Tisch ab. Henk verzieht sich ins Wohnzimmer und schaltet den Fernseher ein.
Als ich mit Spülen fertig bin, setze ich mich an den Schreibtisch. Ich fange mit den üblichen Eintragungen an, aber ich bin immer noch etwas benebelt, und mein Blick schweift dauernd von den Papieren vor mir ab. Nach einer Weile verstummt der Fernseher. Henk geht in den Flur und dann in die Waschküche, und kurz danach höre ich das Wasser im Badezimmer laufen. Ich versuche mich auf meine Arbeit zu konzentrieren, aber eigentlich warte ich darauf, ihn die Treppe hinaufgehen zu hören.
Er geht nicht die Treppe hinauf, er kommt in die Küche, mit einem Handtuch um die Taille. Mit der linken Hand umklammert er den Rand der Tür. »Ich bin froh, daß mein Vater tot ist«, sagt er.
»Was?«
»Tot. Meine Mutter hat mich gar nicht erst gefragt, ob ich mit den Schweinen weitermachen wollte, sie hat einfach alles verkauft.«
»Hättest du den Betrieb denn übernehmen wollen?«
»Nein! Bloß nicht! Ich fand’s wirklich gut so.«
»Aber daß sie dich gar nicht gefragt hat, kränkt dich.«
»Nö. Vielleicht haben meine Schwestern ihr gesagt, daß sie verkaufen soll. Ich weiß es nicht. Sie haben mich aus allem rausgehalten.«
»Also bist du froh.«
»O ja.« Er sieht nicht froh aus.
»Was für ein Mann war dein Vater?«
Er denkt einen Augenblick nach und zuckt dann mit einer Schulter. »Eigentlich war er sehr nett. Ich konnte ihn gut leiden.« Er hält immer noch die Tür fest und schaut die ganze Zeit zum
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