Oben ohne
zählt? Wahrscheinlich lässt sich das alles gar nicht mehr klären, bevor ich unters Messer komme. Die Mühlen mahlen langsam.
Anfang Oktober gingen die Briefe an Krankenkasse und Beihilfe raus, mit den beiden Gutachten. Hoffentlich macht sich dort jemand die Mühe, das alles zu lesen. Es war auf jeden Fall ein ganz schöner Aufwand. Knapp zwei Wochen später, einen Tag nach meinem Geburtstag, lag ein Schreiben von der Beihilfe im Briefkasten. Kurz durchzuckte mich die Hoffnung: Vielleicht schenken sie mir zum Geburtstag ja die Kostenübernahme! Aber es war reiner Zufall, dass der Brief am 6. Oktober verfasst war. Die Behörde forderte mich lediglich auf, mir ein amtsärztliches Gutachten vom Gesundheitsamt zu besorgen. Ich habe durchaus damit gerechnet, dass mich der Staat durch meine lange Fehlzeit irgendwann zum Amtsarzt zitiert. Das kenne ich noch von meiner Mutter. Ist ja auch verständlich. Aber dass ihnen Gutachten von zwei Ärzten nicht reichen, um eine Kostenübernahme zu bekommen?
Egal. Ich habe also nochmal alles kopiert, in einen Umschlag gepackt und ab damit ans Gesundheitsamt. In den folgenden Wochen habe ich immer wieder bei den diversen Sachbearbeitern angefragt, was die Anträge denn so machen. Doch noch gibt es keine Neuigkeiten. Nebenher trudeln die Rechnungen von der Klinik in Schönau ein. Nicht so einfach, da den Überblick zu behalten. Normalerweise muss ich das alles ja vorstrecken, aber bei den Beträgen ist klar, dass ich erst mal Geld von der Krankenkasse und der Beihilfe brauche, bevor ich die Rechnung bezahlen kann.
Ruhe ist genau das Richtige vor unserer Königsetappe morgen. Wir wollen über den höchsten Pass Mallorcas beim Puig Major. Eine schöne, aber auch anstrengende Tour, denn bis wir dort sind, müssen wir so oder so etliche Kilometer und Höhenmeter zurücklegen. Eigentlich kein Problem, aber ein Ruhetag schadet auch nichts. Schließlich sind wir hier nicht im Straflager. Und es wird meine letzte lange Radtour vor den Operationen sein. Danach ist dann für Monate Schluss. Keine schöne Aussicht.
Ich liege auf dem Bett und lese eines jener Bücher, die mir Oma mitgegeben hat. Zu anspruchsvoll darf die Literatur nicht mehr sein, sonst schweifen meine Gedanken ständig ab, und ich denke zu viel an all die Dinge, die da kommen werden. Der Urlaub ist ebenfalls fast rum, übermorgen geht der Flieger zurück Richtung Flughafen Basel. Noch zweimal zum Abendessen. Das werde ich definitiv nicht sonderlich vermissen. Das Hotel ist wirklich in Ordnung, aber den Meerblick bezahlen wir mit etwas minderwertiger und vor allem fettiger Essensqualität. Egal, der Meerblick, das Wetter – das alles macht es locker wett. Und schließlich gibt es auch auf Mallorca Supermärkte mit einem fremdartigen, aber umso spannenderen Angebot an Keksen und anderen Süßigkeiten. Heute können wir beide sowieso den ganzen Tag futtern, denn nach sechs Tagen Radfahren will der Körper spätestens am Ruhetag die ganzen Reserven wieder auffüllen. Glücklicherweise hatten wir bisher absolutes Traumwetter: um die 30 Grad, windstill, stabile Wetterlage. Und das Ende Oktober!
Tino kommt vom Balkon herein und lässt sich neben mir aufs Bett fallen.
»Gummibärchen!«, ruft er. »Da bleibe ich doch glatt hier.«
Mir ist es draußen einfach zu anstrengend gewesen: immer das Buch hochhalten. Auf dem Bett lümmeln wir herum, entspannen die Nackenmuskulatur und lassen die Zeit einfach so verstreichen. Dann sagt Tino: »Ob das gestern Abend das letzte Mal Sex vor den Operationen war?«
»Du stellst Fragen. Nach so einer Bemerkung kannst du fast sicher sein, dass es das letzte Mal war!«
In solchen Situation schalte ich ganz schnell auf stur.
»Ist dir der Gedanke noch nicht gekommen?« Tino ist überrascht.
»Um ehrlich zu sein: Nö.« Und eigentlich will ich gar nicht darüber nachdenken. »Wenn das zur Kopfsache wird, dann kannst du das gerade mal vergessen mit dem Sex. Wenn ich daran denken muss, dann vergeht mir sofort jede Lust.«
Tino schaut mich nachdenklich an.
»Aber wie geht das weiter?«
Verdammt gute Frage.
»Woher soll ich das wissen? Irgendwie halt. Ich habe schließlich noch mehr erogene Zonen.«
Ich weiß nicht genau, aber ich denke schon, dass die ersten Male Sex nach den Operationen nicht einfach werden. Aber ich weiß das schlicht nicht. Ich habe keine Vorstellung davon, wie viel Schmerzen ich haben werde, und wie es sein wird, im Brustbereich wenig oder nichts wahrzunehmen. »Hör zu,
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