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Oblomow

Oblomow

Titel: Oblomow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iwan Gontscharow
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hatte. Die Freiheit und Unabhängigkeit, die ihr das, was sie dachte, zu äußern erlaubten, waren verschwunden. Wohin war das alles geraten? Nach dem Essen trat er auf sie zu und fragte, ob sie Spazierengehen wolle. Sie wandte sich, ohne ihm zu antworten, an die Tante mit der Frage:
    »Gehen wir spazieren?«
    »Wenn's nicht weit ist«, sagte die Tante. »Laß mir den Schirm geben.«
    Und alle gingen mit. Man ging träge, blickte in die Ferne, auf Petersburg hin, kam bis zum Wald und kehrte auf den Balkon zurück.
    »Mir scheint, Sie sind heute nicht aufgelegt zu singen? Ich fürchte mich sogar zu bitten«, sagte Oblomow, in der Erwartung, die Steifheit würde ein Ende nehmen, ihre Fröhlichkeit würde zurückkehren, und in der Hoffnung, wenigstens in einem einzigen Wort ein Lächeln und endlich im Gesang einen Strahl ihrer Aufrichtigkeit, Naivität und Zutraulichkeit aufzufangen.
    »Es ist heiß!« bemerkte die Tante.
    »Ich werde versuchen«, sagte Oljga und sang eine Romanze.
    Er lauschte und traute seinen Ohren nicht. Das war sie nicht; wo war der frühere, leidenschaftliche Ton? Sie sang so rein, so korrekt und dabei so ... so wie alle Mädchen, wenn man sie in Gesellschaft vorzusingen bittet. Ohne Begeisterung. Sie hatte den Gesang ihrer Seele beraubt, und im Zubehör bewegte sich kein einziger Nerv. Spielte sie mit ihm? Heuchelte sie? Zürnte sie? Man konnte nichts erraten; sie blickte ihn freundlich an, sprach gerne, tat es aber ebenso wie sie sang, wie alle ... Was war das?
    Oblomow ergriff noch vor dem Tee seinen Hut und verabschiedete sich.
    »Kommen Sie öfters«, sagte die Tante, »wenn Ihnen unsere Gesellschaft genügt, wir sind an Wochentagen immer allein, am Sonntag ist gewöhnlich irgend jemand da. Sie werden sich also nicht langweilen.«
    Der Baron erhob sich höflich und verbeugte sich.
    Oljga nickte ihm wie einem guten Bekannten zu, wandte sich, als er gegangen war, zum Fenster hin und lauschte gleichgültig Oblomows sich entfernenden Schritten.
    Diese zwei Stunden und die folgenden drei, vier Tage, höchstens eine Woche, hatten sie tief beeinflußt und sie um vieles weitergebracht. Nur Frauen sind einer so schnellen Entfaltung der Kräfte und Entwicklung aller Gebiete ihres Geistes fähig. Sie nahm gleichsam den Kursus des Lebens nicht tage-, sondern stundenweise durch. Und jede Stunde der geringsten, kaum merkbaren Erkenntnis, eines Zufalles, der wie ein Vogel an der Nase eines Mannes vorbeihuscht, wird vom Mädchen unaussprechlich schnell aufgefangen; sie folgt seinem Fluge in die Ferne, und die Linie, die er umschrieben hat, gräbt sich unauslöschlich, als eine Lehre und Offenbarung, in ihr Gedächtnis ein. Dort, wo der Mann einen Wegweiser mit einer Aufschrift braucht, genügt ihr der vorübersausende Wind, die bebende, mit dem Ohre kaum aufzufangende Erschütterung der Luft. Warum, infolge welcher Ursachen, wird das Gesicht des Mädchens, das noch vorige Woche so sorglos, so lächerlich naiv war, plötzlich von einem strengen Gedanken umschattet? Und was ist das für ein Gedanke? Woran? In diesem Gedanken ist wohl alles enthalten, die ganze Logik, die metaphysische und praktische Philosophie des Mannes, das ganze System des Lebens! Der Cousin, der sie noch vor kurzem als kleines Mädchen zurückgelassen hat, und der jetzt mit dem Lernen fertig geworden ist und Epauletten trägt, läuft, sie erblickend, fröhlich auf sie zu, mit der Absicht, sie wie früher auf die Schulter zu klopfen, sie bei den Händen zu fassen, sich mit ihr zu drehen, über die Stühle und Sofas zu springen; aber nachdem er ihr forschend ins Gesicht geblickt hat, wird er schüchtern, tritt verlegen zurück und begreift, daß er noch ein grüner Junge ist, während sie schon ein Weib ist! Woher kommt das? Was ist geschehen? Ein Drama? Ein bedeutsames Ereignis? Eine Neuigkeit, die der ganzen Stadt bekannt ist? Nichts, weder maman noch mon oncle noch ma tante noch die Kinderfrau noch das Stubenmädchen wissen etwas. Wann sollte auch etwas geschehen sein; sie hat zwei Mazurkas und ein paar Quadrillen getanzt, hat Kopfweh bekommen und in der Nacht nicht geschlafen ... Und dann ist's wieder vergangen, aber in ihrem Gesichte ist etwas Neues erschienen; sie blickt anders an, lacht nicht mehr laut, ißt nicht eine ganze Birne auf einmal, erzählt nicht, »wie es bei uns im Pensionat war« ... Auch sie hat den Kursus beendet.
    Oblomow konnte am zweiten und dritten Tag, gleich jenem Cousin, Oljga kaum wiedererkennen und blickte

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