Oblomow
sie schüchtern an, während sie ihn einfach, nur ohne Neugierde, ohne Zärtlichkeit, ganz so wie die anderen ansah. »Was ist mit ihr? Woran denkt sie jetzt, was fühlt sie?« quälte er sich mit Fragen ab. »Bei Gott, ich begreife nichts!« Und wie hätte er darauf kommen sollen, daß in ihr dasjenige vorging, was in einem Manne im Alter von fünfundzwanzig Jahren, mit Hilfe von fünfundzwanzig Professoren, von Bibliotheken, nach dem Durchwandern der Welt, manchmal sogar erst nach einigem Verlust des moralischen Aromas der Seele, der Frische der Gedanken und der Haare vorgeht, das heißt, daß sie die Sphäre der Erkenntnis betreten hatte? Das Erklimmen dieser Stufe hatte sich für sie so einfach und leicht erwiesen.
»Nein, das ist bedrückend und langweilig!« entschied er. »Ich werde auf die Wiborgskajastraße übersiedeln, werde arbeiten und lesen und werde dann ... allein nach Oblomowka fahren!« – fügte er mit tiefer Traurigkeit hinzu: »Ohne sie! Lebe wohl, mein Paradies, mein lichtes, stilles Lebensideal!«
Er ging weder am vierten noch am fünften Tag zu Oljga, las nicht und schrieb nicht, versuchte einen Spaziergang zu unternehmen und begab sich auf die staubige Straße hinaus, von dort aus ging es bergauf. »Was ist das für ein Vergnügen, sich in der Hitze herumzuschleppen!« sprach er zu sich selbst, gähnte, kehrte zurück, legte sich aufs Sofa und schlief ein, wie er es in der Gorochowajastraße bei herabgelassenen Jalousien zu tun pflegte. Er hatte nebelhafte Träume. Als er erwachte, sah er vor sich einen gedeckten Tisch, mit Suppe und gehacktem Fleisch. Sachar stand da und blickte schläfrig durchs Fenster, während Anissja im Nebenzimmer mit den Tellern klapperte. Er aß und setzte sich ans Fenster. Es ist langweilig und sinnlos, immer allein zu sein! Er hatte wieder keine Wünsche!
»Schauen Sie, gnädiger Herr, man hat von den Nachbarn ein Kätzchen gebracht; wollen Sie es nicht behalten? Sie haben gestern nach einem Kater gefragt«, sagte Anissja, die ihn dadurch zerstreuen wollte, und legte das Kätzchen auf seinen Schoß.
Er begann es zu streicheln, aber er langweilte sich auch mit dem Kätzchen.
»Sachar!« sagte er.
»Was wünschen Sie?« gab Sachar träge zur Antwort.
»Ich werde vielleicht in die Stadt übersiedeln.«
»Wohin denn? Wir haben ja keine Wohnung!«
»In die Wiborgskajastraße.«
»Da würden wir ja aus einer Landwohnung in eine andere übersiedeln! Wozu denn? Vielleicht um Michej Andreitsch wiederzusehen?«
»Hier ist es unbequem ...«
»Wir sollen wieder umziehen? Mein Gott! Wir sind noch vom vorigen Mal müde; ich kann noch immer die zwei Schalen und den Kehrbesen nicht finden; wenn Michej Andreitsch sie nicht mitgenommen hat, dann sind sie verlorengegangen.«
Oblomow schwieg. Sachar ging und kam gleich wieder, indem er den Koffer und den Reisesack hereinschleppte.
»Was soll man damit anfangen? Wollen wir ihn nicht verkaufen?« sagte er, den Koffer mit dem Fuß stoßend.
»Was hast du? Bist du verrückt? Ich fahre dieser Tage ins Ausland«, unterbrach Oblomow ihn zornig.
»Ins Ausland!« sagte Sachar grinsend, »wenn Sie noch was anderes gesagt hätten, aber ins Ausland!«
»Warum wundert dich das so? Ich fahre hin und basta ... Ich habe ja schon einen Paß.«
»Und wer wird Ihnen dort die Stiefel ausziehen!« bemerkte Sachar ironisch, »vielleicht die Dienstmädchen? Sie werden doch dort ohne mich nicht auskommen!«
Er grinste wieder, so daß der Backenbart und die Brauen sich nach den Seiten auseinanderschoben.
»Du sprichst immer Unsinn! Trag das hinaus und geh!« antwortete Oblomow ärgerlich.
Sowie Oblomow am nächsten Tag gegen zehn Uhr morgens erwachte, sagte ihm Sachar, als er den Tee brachte, daß er auf dem Weg zum Bäcker dem Fräulein begegnet wäre.
»Welchem Fräulein?«
»Welchem? Fräulein Iljinskaja, Oljga Sjergejewna.«
»Nun?« fragte Oblomow ungeduldig.
»Nun, sie hat Sie grüßen lassen und hat gefragt, ob Sie wohlauf sind, und was Sie machen.«
»Was hast du denn gesagt?«
»Ich habe gesagt, daß Sie wohlauf sind, was sollte ihm denn geschehen sein, hab' ich gesagt.«
»Warum fügst du deine dummen Bemerkungen hinzu?« fragte Oblomow. »›Was sollte ihm denn geschehen sein!‹ Woher weißt du, was mit mir geschieht. Nun, was noch?«
»Sie hat gefragt, wo Sie gestern zu Mittag gegessen haben.«
»Nun? ...«
»Ich hab' gesagt, daß Sie zu Mittag und abends zu Hause gegessen haben. ›Ißt er denn auch abends?‹ hat
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