Oblomow
Ihren Augen, in Ihrem Lächeln, in diesem Zweig, in Casta diva ... alles ist darin ...«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, nicht alles ... nur die Hälfte.«
»Die beste.«
»Vielleicht«, sagte sie.
»Wo wäre denn das andere? Was bliebe denn noch übrig?«
»Suchen Sie.«
»Wozu?«
»Um die erste nicht zu verlieren«, sprach sie zu Ende, reichte ihm die Hand, und sie gingen nach Hause.
Er warf entzückte und heimliche Blicke auf ihr Köpfchen, auf ihre Gestalt und ihre Haare und preßte den Zweig krampfhaft zusammen.
»Ein neues Leben, neue Hoffnungen«, sprach er sinnend und glaubte sich selbst nicht.
»Übersiedeln Sie nicht auf die Wiborgskajastraße?« fragte sie, als er sich seinem Hause zuwandte.
Er lachte und nannte Sachar nicht einmal einen Tölpel.
Neuntes Kapitel
Seitdem gab es in Oljga keine plötzlichen Veränderungen mehr. Sie war gleichmäßig, mit der Tante und in Gesellschaft ruhig, sie lebte aber und empfand das Leben nur, wenn sie mit Oblomow war. Sie fragte sich schon nie mehr, wie sie sich zu benehmen und was sie zu tun hatte und berief sich im stillen nicht auf Sonitschkas Autorität. Je mehr die Phasen des Lebens, das heißt des Gefühls, sich vor ihr eröffneten, desto schärfer beobachtete sie die Erscheinungen, lauschte wachsam der Stimme ihres Instinkts, verglich sie, so gut es ging, mit den wenigen von ihr gesammelten Erfahrungen und ging vorsichtig weiter, indem sie mit dem Fuß den Boden prüfte, über den sie schreiten wollte. Sie hatte niemand, den sie fragen konnte. Die Tante? Doch diese glitt so leicht und geschickt über solche Fragen hin, daß es Oljga niemals gelingen wollte, aus ihren Ansichten irgendeine Sentenz zu bilden, die sie sich ins Gedächtnis einprägen könnte. Stolz war nicht da. Oblomow? Doch er glich einer Galatea, der gegenüber sie selbst den Pygmalion zu spielen hatte. Ihr Leben war so still und für alle unsichtbar inhaltreich geworden, daß sie in der neuen Sphäre lebte, ohne irgendwelches Aufsehen zu erregen, ohne sichtbare Unruhe oder Erregung. Sie tat in den Augen von allen anderen dasselbe, aber sie tat es anders. Sie fuhr zum französischen Stück hin, doch der Inhalt gewann auf irgendeine Weise einen Zusammenhang mit ihrem Leben; wenn sie ein Buch las, stieß sie sicher auf Zeilen, die mit den Funken ihres Geistes durchsetzt waren, hie und da sah sie das Feuer ihrer Gefühle lodern und fand die gestern gesprochenen Worte, als hätte der Autor das Klopfen ihres Herzens erraten. Im Wald standen noch dieselben Bäume, doch ihr Rauschen hatte jetzt einen neuen Sinn erhalten; zwischen ihnen und ihr bestand jetzt ein besonderes lebendiges Einvernehmen. Die Vögel zwitscherten und sangen nicht, sondern sprachen immer miteinander; und alles um sie herum sprach und stand mit ihrer Stimmung im Einklang; wenn eine Blume aufblühte, schien sie ihr Atmen zu vernehmen. Auch in die Träume kam jetzt ein neues Leben; sie bevölkerten sich mit Erscheinungen und Gestalten, mit denen sie manchmal laut sprach ... Sie erzählten ihr etwas, aber so undeutlich, daß sie nichts verstehen konnte; sie gab sich Mühe, mit ihnen zu sprechen, sie zu befragen, und sprach auch etwas Unverständliches. Und Katja sagte ihr des Morgens, daß sie aus dem Schlaf gesprochen hätte. Sie dachte an Stolz' Prophezeiungen. Er hatte ihr oft gesagt, sie hätte noch nicht begonnen zu leben, und sie fühlte sich manchmal beleidigt, daß er sie für ein kleines Mädchen hielt, während sie schon zwanzig Jahre alt war. Und jetzt begriff sie, daß er recht hatte, und daß sie soeben erst zu leben begonnen hatte. »Wenn alle Kräfte Ihres Organismus zu wogen beginnen, dann wird auch das Leben um Sie herum wogen, und Sie werden das erblicken, was Ihre jetzt geschlossenen Augen nicht sehen, und werden hören, was Ihnen jetzt verborgen ist; dann beginnt die Musik Ihrer Nerven, dann hören Sie das Singen der Sphären und das Wachsen der Gräser. Warten Sie, beeilen Sie sich nicht, es kommt von selbst!« drohte er. Es war gekommen. »Das ist gewiß das Wogen der Kräfte, der Organismus ist erwacht ...« gebrauchte sie seine Worte, wachsam dem unbekannten Beben lauschend und scharf und schüchtern jede neue Äußerung der erwachenden Kraft beobachtend. Doch sie verfiel nicht ins Träumen, ergab sich nicht dem plötzlichen Zittern der Blätter, den nächtlichen Erscheinungen, dem geheimnisvollen Flüstern, wenn es ihr schien, daß jemand sich über ihr Ohr beugte und ihr etwas Unklares und
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