Oblomow
sie fand darin nichts, was auf eine zweite Liebe Bezug hatte. Sie erinnerte sich an die Aussprüche verschiedener Tanten, alter Jungfrauen, kluger Köpfe und endlich der Schriftsteller, »der Philosophen der Liebe« – und hörte von allen Seiten das unerbittliche Urteil: »Das Weib liebt nur einmal wahrhaft.« Auch Oblomow hatte dieselbe Ansicht geäußert. Sie dachte an Sonitschka und daran, wie diese sich wohl dieser zweiten Liebe gegenüber verhalten würde, und hörte, daß diese bereits zu einer dritten übergegangen war ... Nein, nein, sie empfand Stolz gegenüber keine Liebe, entschied sie bei sich, das konnte nicht sein! Sie hatte Oblomow geliebt, und diese Liebe war gestorben, die Blüte ihres Lebens war für immer verwelkt! Sie empfand für Stolz nur Freundschaft, die durch seine wertvollen Eigenschaften und dann auch durch seine Freundschaft für sie hervorgerufen wurde und gegenseitige Aufmerksamkeit und gegenseitiges Vertrauen zur Folge hatte ... So stieß sie den Gedanken an die Möglichkeit der Liebe ihrem alten Freund gegenüber von sich.
Das war der Grund, warum Stolz in ihrem Gesicht und in ihren Worten weder ein Zeichen von vollkommener Gleichgültigkeit, noch einen aufflammenden Blitz, noch selbst einen Funken von Gefühl erhaschen konnte, das auch nur um ein Haar die Grenzen einer warmen, herzlichen, aber aussichtslosen Freundschaft überschritten hätte. Ihr blieb, um dem allem ein Ende zu machen, nichts übrig, als, nachdem sie die Anzeichen einer aufkeimenden Liebe in Stolz wahrgenommen hatte, ihr weder Nahrung noch Spielraum zu lassen und schnell zu verreisen. Doch sie hatte den rechten Zeitpunkt schon verfehlt; das war längst geschehen, außerdem hätte sie voraussehen sollen, daß das Gefühl sich in ihm zur Leidenschaft steigern würde; das war auch nicht Oblomow; sie konnte ihm nicht entfliehen. Es wäre vielleicht physisch möglich gewesen, aber moralisch war die Abreise für sie unmöglich; bisher hatte sie nur von den früheren Rechten der Freundschaft Gebrauch gemacht und in Stolz wie bisher bald einen launigen, spöttischen Gesellschafter, bald einen klugen, tiefen Beobachter der Lebenserscheinungen gefunden – alles dessen, was mit ihnen geschah oder an ihnen vorüberhuschte und ihr Interesse hervorrief. Doch je öfter sie zusammenkamen, desto mehr näherten sie sich geistig einander, und desto mehr steigerte sich seine Bedeutung für sie; er vertauschte die Rolle eines Beobachters unmerklich mit derjenigen des Deuters der Lebenserscheinungen und ihres Leiters. Er wurde unsichtbar zu ihrem Verstande und ihrem Gewissen, und es entstanden neue Rechte und neue Bande, die Oljgas ganzes Leben umstrickten, alles außer einem geheimen Winkel, den sie sorgsam vor seinen Augen und seinem Urteil verbarg. Sie nahm diese geistige Bevormundung ihres Verstandes und Herzens und sah, daß auch sie einen gewissen Einfluß auf ihn ausübte. Sie hatten ihre Rechte ausgetauscht; sie hatte diesen Austausch schweigend und ohne sich darüber zu äußern angenommen. Wie sollte sie jetzt plötzlich alles zurückfordern? ... Und außerdem war darin ... so viel Vergnügen, Abwechslung und Inhalt ... des Lebens enthalten ... Was würde sie tun, wenn das alles plötzlich nicht mehr da wäre? Und als ihr der Gedanke zu fliehen kam, war es schon zu spät, sie hatte nicht mehr die Kraft, es zu tun. Jeder Tag, den sie ohne ihn verbrachte, jeder Gedanke, den sie ihm nicht anvertraut und nicht mit ihm geteilt hatte, verlor für sie jeden Reiz und jede Bedeutung. Mein Gott, wenn ich seine Schwester sein könnte! dachte sie. Welch ein Glück, auf einen solchen Menschen stete Rechte zu haben und nicht nur seinen Verstand, sondern auch sein Herz, seine Anwesenheit offen und frei genießen zu können, ohne es mit irgendwelchen schweren Opfern, Kränkungen und mit dem Anvertrauen einer kläglichen Vergangenheit zu erkaufen.
Und was bin ich jetzt? Wenn er verreist, habe ich nicht nur kein Recht, ihn zurückzuhalten, sondern muß die Trennung wünschen, und wenn ich ihn zurückhalten wollte, was müßte ich ihm sagen, mit welchem Rechte will ich ihn jeden Augenblick sehen und sprechen hören? ... Weil ich mich sonst langweile und sehne, weil er mich belehrt und amüsiert, weil er mir nützlich und angenehm ist ... Das ist natürlich ein Grund, aber kein Recht. Und was biete ich ihm dagegen? Das Recht, mich selbstlos zu bewundern und an Gegenliebe nicht einmal denken zu dürfen, während so viele andere Frauen sich
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