Oblomow
Denke nur daran, daß du keinem einzigen bleichen, leidenden Gesicht, keiner Sorge, keiner einzigen Frage bezüglich des Senats, der Börse, der Aktien, der Relationen, des Empfanges beim Minister, der Titel, der Erhöhung der Diäten begegnen würdest. Es werden nur intime Gespräche geführt! Du würdest niemals deine Wohnung zu wechseln brauchen – was das allein wert ist! Und das wäre nicht das Leben?«
»Das ist nicht das Leben!« wiederholte Stolz beharrlich.
»Was ist es denn dann deiner Meinung nach?«
»Das ...« (Stolz sann nach, wie er dieses Leben nennen sollte) »das ist ... eine Oblomowerei!« sagte er endlich.
»Ob-lo-mowerei!« wiederholte Ilja Iljitsch langsam, sich über dieses seltsame Wort wundernd und es nach den Silben zerlegend, »Ob-lo-mo-we-rei!«
Er blickte Stolz seltsam und forschend an.
»Worin besteht denn deiner Ansicht nach das Lebensideal? Nicht in der Oblomowerei?« fragte er schüchtern und ohne Begeisterung, »streben denn nicht alle nach dem, wovon ich träume? Ich bitte dich«, fügte er dreister hinzu, »ist denn das Erreichen der Ruhe, das Streben nach diesem verlorenen Paradiese nicht das Ziel eurer ganzen Geschäftigkeit, eurer Leidenschaften, eurer Kriege, eures Handelns und eurer Politik?«
»Deine Utopie ist echt oblomowisch«, entgegnete Stolz.
»Alle streben nach Ruhe und Stille«, verteidigte sich Oblomow.
»Nicht alle, auch du hast vor zehn Jahren im Leben nach etwas andrem gesucht.«
»Wonach habe ich denn gesucht?« fragte Oblomow erstaunt, sich im Geiste in die Vergangenheit versenkend.
»Denke nach und erinnere dich. Wo sind deine Bücher und Übersetzungen?«
»Sachar hat sie irgendwohin gesteckt«, antwortete Oblomow, »sie liegen wohl irgendwo hier in der Ecke.«
»In der Ecke«, sagte Stolz vorwurfsvoll, »in derselben Ecke liegen auch deine Vorsätze ›zu arbeiten, solange die Kräfte ausreichen; denn Rußland braucht Hände und Köpfe zum Verarbeiten seiner unerschöpflichen Quellen‹ (deine eigenen Worte), ›sich abzumühen, damit das Ausruhen süßer ist, und sich ausruhen bedeutet, das Leben von einer anderen, artistischen, anmutigen Seite zu genießen, die den Künstlern und Dichtern offensteht‹. Hat Sachar auch alle diese Vorsätze in die Ecke geworfen? Erinnerst du dich, du wolltest, nachdem du mit den Büchern fertig sein würdest, in fremde Länder reisen, um dann das eigene besser zu kennen und mehr zu lieben? ›Das ganze Leben ist Denken und Arbeiten‹, sagtest du damals, ›und wenn es auch ein geheimes, bescheidenes, aber doch ein unaufhörliches Arbeiten ist und man mit dem Bewußtsein sterben kann, seine Pflicht erfüllt zu haben‹ – was? In welcher Ecke liegt das bei dir?«
»Ja ... ja ...«, sagte Oblomow, jedes Wort unruhig aufnehmend, »ich erinnere mich, daß ich wirklich ... ich glaube ... Wie ist es denn?« sagte er, sich plötzlich an die Vergangenheit erinnernd, »wir hatten wohl vor, ganz Europa kreuz und quer zu durchstreifen, die Schweiz zu Fuß zu durchwandern, die Füße am Vesuv zu sengen, nach Herkulanum herabzusteigen. Wir sind beinahe verrückt geworden! Wieviel Dummheiten ...«
»Dummheiten!« wiederholte Stolz vorwurfsvoll. »Hast du nicht beim Anblick der Stiche, welche die Madonnen von Raffael, die Nacht von Correggio, Apollo von Belvedere wiedergaben, unter Tränen gesagt: ›Mein Gott! Wird es mir nie beschieden sein, die Originale zu sehen und vor Entsetzen zu erstarren, weil ich vor einem Werke von Michel Angelo oder von Tizian stehe und über den Boden von Rom schreite! Kann man denn ein ganzes Leben verbringen und die Myrten, Zypressen und Pomeranzen in Glashäusern und nicht in ihrer Heimat sehen? Nicht die Luft Italiens einatmen und sich nicht an der Bläue des Himmels berauschen?‹ Und was für glänzendes Feuerwerk du deinem Kopfe sonst noch entsteigen ließest! Dummheiten.«
»Ja, ja, ich erinnere mich!« sagte Oblomow, sich in die Vergangenheit zurückdenkend. »Du hast mich noch bei der Hand genommen und gesagt: ›Wollen wir uns das Versprechen geben, nicht zu sterben, bevor wir das alles gesehen haben ...‹«
»Ich erinnere mich«, fuhr Stolz fort, »daß du mir einmal eine Übersetzung von Say mit einer Widmung zu meinem Geburtstage gebracht hast; die Übersetzung liegt noch unversehrt bei mir. Und wie du dich mit dem Lehrer der Mathematik eingeschlossen hast und durchaus darauf kommen wolltest, wozu du die Kreise und Quadrate kennen mußt, und bist doch nicht darauf gekommen!
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